Zerspanungstechnik Clevere Werkzeugwechselstrategie beeinflusst Verfügbarkeit
Werkzeugwechsel sind meist an der Standmenge orientiert. Dadurch kommt es zu häufigen Stillständen und hohen Verfügbarkeitsverlusten. Optimierte Werkzeugwechselstrategien, wie Bündelung und Parallelisierung von Werkzeugwechseln, erhöhen die Wirtschaftlichkeit.
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Die Werkzeugmaschine meldet einen Stillstand. Der erste Blick auf den Bildschirm der Steuerung verrät: Ein Werkzeug hat seine Standmenge erreicht. Ein zweiter Blick zeigt, ein anderes Werkzeug hat auch nur noch eine geringe Reststandmenge. Der Mitarbeiter beginnt mit dem Wechsel des abgelaufenen Werkzeugs und entscheidet, das zweite Werkzeug ebenfalls zu wechseln. Dann läuft die Anlage wieder.
Verschleißbedingte Werkzeugwechsel reduzieren Produktivität
Diese Situation ist in vielerlei Hinsicht typisch und verdeutlicht auch zwei Potenziale von Werkzeugwechselstrategien:
- Der Mitarbeiter erfährt kurzfristig von den anstehenden Werkzeugwechseln.
- Die Entscheidung, ob weitere Werkzeuge mit gewechselt werden, erfolgt intuitiv.
Im Bereich der spanenden Großserienfertigung entstehen erhebliche Produktivitätsverluste durch verschleißbedingte Werkzeugwechsel. Bei den vor einigen Jahren vorwiegend für große Stückzahlen beschafften Transferstraßen liegen diese durchaus im Bereich von 20%. Aber auch bei neuen Maschinenkonzepten wie Transferzentren sind Werkzeugwechsel eine Ursache für hohe Verfügbarkeitsverluste.
Der Grund dafür ist, dass die Werkzeuge beim Wechsel häufig einen Eingriff des Mitarbeiters in den Arbeitsraum der Maschine erfordern, der zwangsweise zum Stillstand der Anlage führt. Während das Rüsten im Rahmen der schlanken Produktion insbesondere durch Methoden wie Single Minute Exchange of Die (SMED) intensiv betrachtet wurde, ist die Optimierung der verschleißbedingten Werkzeugwechsel ein Randthema. Die Ansätze sind in der Regel technisch, beispielsweise Erhöhung der Standmenge oder Spannfutter für schnelle und prozesssichere Wechsel.
Bisher wenig organisatorische Ansätze für weniger Stillstände durch Werkzeugwechsel
Organisatorische Ansätze sind nur rudimentär verbreitet. Es fehlen vor allen Dingen Strategien, die eine Optimierung der werkzeugwechselbezogenen Stillstände der Linien in Bezug auf Werkzeugkosten, Linienverfügbarkeit und Personalkosten ermöglichen. Diese Lücke zu schließen, ist das Ziel des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der TU Darmstadt.
Dabei werden Methoden zur Ermittlung der optimalen Reihenfolge und Häufigkeit der Wechsel von Zerspanwerkzeugen (Werkzeugwechselstrategien) entwickelt und erprobt.
Für die Werkzeugwechselstrategie ist die individuelle Standmenge der Werkzeuge die wichtigste Determinante. Die Standmenge darf durch die Werkzeugwechselstrategie zu keinem Zeitpunkt überschritten werden. Sehr wohl ist aber eine bewusste Unterschreitung der maximalen Standmenge zulässig, wenn dadurch die Verfügbarkeit der Linie erhöht wird.
Zwei Basisstrategien für die Werkzeugwechsel
Daraus ergeben sich die beiden Basisstrategien für Werkzeugwechsel:
- Standmengenstrategie und
- Intervallstrategie.
Bei einer rein standmengenbezogenen Strategie wird jedes Werkzeug nach Erreichen seiner individuellen Standmenge gewechselt, während bei einer rein intervallbezogenen Wechselstrategie, die Wechsel in einem definierten Intervall unter bewusstem Verzicht auf Teile der Standmenge zusammengefasst werden. Die Strategien weisen verschiedene Stärken und Schwächen auf (Tabelle 1 – siehe Bildergalerie).
So ist die rein standmengenbezogene Strategie gerade bei stark unterschiedlichen Standmengen mit hohen Stillstandszeiten der Werkzeugmaschinen verbunden. Demgegenüber steht der intervallbezogene Werkzeugwechsel, der zu erhöhten Werkzeugkosten durch die Reduktion der genutzten Standmenge und somit zu einer größeren Anzahl notwendiger Werkzeuge führt.
Optimale Reihenfolge und Häufigkeit der Werkzeugwechsel ermitteln
Die drei wichtigsten Einflussgrößen bei der Entwicklung der Werkzeugwechselstrategie sind somit:
- Linienverfügbarkeit (beziehungsweise die Verluste der Verfügbarkeit durch Werkzeugwechsel),
- Personaleinsatz (Mitarbeiterverfügbarkeit und Personalkosten) und
- Werkzeug(-verlust-)kosten.
Die Erhöhung der Verfügbarkeit durch Bündelung von Werkzeugwechseln wird dadurch möglich, dass beim Werkzeugwechsel jeweils zwei Zeitanteile auftreten (Bilder 1 bis 4 – siehe Bildergalerie). Zum einen ein maschinenbedingter Zeitblock und zum anderen ein werkzeugabhängiger Anteil.
Der maschinenbedingte Zeitblock fällt bei jedem Start und Stopp der Maschinen an, unabhängig davon, wie viele Werkzeuge an der Maschine tatsächlich gewechselt werden. Er entsteht typischerweise dadurch, dass beispielsweise vor dem Werkzeugwechsel Türen geöffnet werden, der Arbeitsraum von Spänen befreit wird oder dass nach dem Wechsel Arbeitsmaterialien aus dem Arbeitsraum entfernt oder Vorgänge in der Steuerung quittiert werden müssen.
Der werkzeugabhängige Anteil entsteht durch den eigentlichen Wechselprozess, das heißt Öffnen von Verschraubungen am Halter, Wechsel des Werkzeuges. Die gesamte Dauer eines Wechselvorganges ist die Summe aus der maschinenbedingten Zeit und der Summe der werkzeugabhängigen Zeiten über die gewechselten Werkzeuge.
Zusammenfassung mehrere Werkzeugwechsel führt zu weniger Stillstand
Durch Zusammenfassen mehrerer Wechsel kann die Stillstandszeit reduziert werden, weil die maschinenbedingte Wechselzeit nur einmal anfällt. Die generelle Eignung der einen oder der anderen Strategie kann nicht festgestellt werden.
Tendenziell eignen sich für Anlagen mit hohen Maschinenstundensätzen (im Vergleich zum Wert der Werkzeuge) und hohen maschinenbedingten Werkzeugwechselzeiten eher Intervallstrategien, für günstige Produktionseinrichtungen mit kurzen maschinenbedingten Zeiten eher die Standmengenstrategie. Ob allerdings ein Werkzeug eher standmengen- oder intervallbasiert gewechselt werden sollte, hängt tendenziell vor allem vom Wert des jeweiligen Werkzeuges als von seiner werkzeugabhängigen Wechselzeit ab (Tabelle 2).
Parallelisierung der Werkzeugwechsel reduziert Stillstandszeit
Ein erhöhter Personaleinsatz zeigt bei einer Maschine meist kaum Wirkung, weil die Größe der Arbeitsräume den Wechsel durch nur einen Mitarbeiter ermöglicht. Auf der Ebene von ganzen Produktionslinien können aber mehrere Mitarbeiter eingesetzt werden, um anfallende Werkzeugwechsel parallel durchzuführen. Diesem positiven Effekt der Verfügbarkeitserhöhung durch Bündelung und Parallelisierung von Werkzeugwechseln stehen insbesondere die mögliche Erhöhung der Personalkosten und die Erhöhung der Werkzeugkosten gegenüber.
Um diesen Trade-off zu bewerten, sind die gesamten Stückkosten der Werkzeugwechselstrategie zu minimieren. Dazu wird der Verfügbarkeitsverlust über die Maschinenstundensätze des Unternehmens bewertet. Diese Kosten sind die Opportunitätskosten für die Produktionslinie, bedingt durch die verlorene Produktionszeit.
Zweites Kostenelement sind die Kosten der nicht genutzten Werkzeuge. Dabei werden diese Kosten über die Differenz aus maximaler Standmenge und der tatsächlichen genutzten Standmenge und den Wert des Werkzeuges berechnet. Als drittes Kostenelement werden die Personalkosten einbezogen.
Stückkosten aus Werkzeugverlust-, Linienverlust- und Personalkosten minimieren
Das Optimierungsziel lautet in diesem Fall: Minimiere die Stückkosten aus Werkzeugverlust-, Linienverlust- und Personalkosten!
Dieses Vorgehen zeigt auf, welche „Werkzeugverschwendung“ für eine Erhöhung der Linienverfügbarkeit noch vertretbar ist. Dadurch kann zum Beispiel in der Planung eine höhere Produktivität veranschlagt werden und im Extremfall die Anlage kleiner dimensioniert werden.
Für komplexere Mehrmaschinenprobleme mit der Möglichkeit, mehr als einen Mitarbeiter einzusetzen, empfiehlt sich der Einsatz eines Optimierungsmodells, wie es für diese Aufgaben am PTW entwickelt wurde. Die Ergebnisse einer Bestimmung der optimalen Werkzeugwechselstrategie sind in Bild 2 dargestellt.
Optimierte Werkzeugwechselstrategien offenbaren hohe Einsparmöglichkeiten
Ausgangspunkt ist eine Anlage mit drei Maschinen mit je zwei Werkzeugen pro Maschine. Die Maschinen sind ohne Pufferbestände verkettet. Die Berechnung erfolgt hier in Arbeitstakten.
Während die Werkzeugwechselzeit im Falle der Standmengenstrategie 47 Arbeitstakte beträgt, können diese im optimierten Fall bei gleichem Mitarbeitereinsatz um 32% reduziert werden. Die so gewonnenen Arbeitstakte können für eine Erhöhung der Stückzahl genutzt werden oder in Summe Produktionsschichten eingespart werden.
Bei 250 Arbeitstagen und 4% eingesparter Kapazität entspricht dies immerhin zehn Arbeitstagen. Dieses einfache Beispiel zeigt die erheblichen Einsparpotenziale durch optimale Werkzeugwechselstrategien.
Optimierung der Standzeiten und Werkzeugwechselintervalle
Das am PTW entwickelte Modell ermöglicht die Festlegung der optimalen Wechselstrategie bei vorhandenen Werkzeugen und gibt Aufschluss über Ansatzpunkte zur Optimierung der Standzeiten und Werkzeugwechselzeiten. Des Weiteren kann es verwendet werden, um den Nutzen von technischen und organisatorischen Maßnahmen ganzheitlich zu bewerten.
Dieses Modell arbeitet mit den gegebenen Zeiten für Werkzeugwechsel und Standzeiten. Die Ergebnisse der Optimierung liefern Erkenntnisse über Verbesserungspotenziale. Kann beispielsweise durch eine minimale Veränderung der Standzeit ein wesentlich besseres neues Optimum erreicht werden, können gezielt technologische Optimierungen beim Werkzeughersteller nachgefragt werden.
Darüber hinaus kann das Modell in „umgekehrter“ Richtung angewandt werden. Mögliche Optimierungsmaßnahmen können durch Veränderungen der Parameter vorher abgebildet und auf ihre Wirtschaftlichkeit hin beurteilt werden. Veränderungen, die so bewertet werden können, sind beispielsweise die Verkürzung der Werkzeugwechselzeiten durch Schnellspannsysteme. Damit wird es auch möglich, bereits in der Planungsphase höhere Investitionen in größere Werkzeugrevolver oder -magazine zu bewerten.
* Prof. Dr.-Ing. Eberhard Abele ist Leiter des Instituts für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der TU Darmstadt; Dipl.-Ing. Benjamin Hueske war wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dipl.-Wirtsch.-Ing. Laura Schröder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut
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