Bohrprozess im Griff Halbautomatisches Bohren wird jetzt mit KI überwachbar
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Wenn viele Bohrungen auszuführen sind, kommt jede Automatisierungs-Chance gelegen, die hilft, die Qualität zu sichern. Und Forscher in Hamburg haben es jetzt geschafft, zumindest semiautomatische Bohrprozesse mit Künstlicher Intelligenz zu kontrollieren.

Die Mehrzahl der Nietbohrungen beim Flugzeugbau wird mit handgeführten semiautomatischen und vollständig manuellen Bohrmaschinen eingebracht, weil die Vollautomatisierung aufgrund von Arbeitsplatzbegrenzungen nicht möglich ist. Neu entwickelte semiautomatische Advanced Drilling Units (ADUs) ermöglichen aber die intelligente Prozessauslegung. Sie bieten auch eine Online-Zustandsüberwachung durch Auswertung integrierter Sensordaten.
Im Folgenden wird gezeigt, wie maschinelles Lernen (ML) auf ADU-Sensordaten angewandt werden kann, um Schnittkräfte und Prozessbedingungen basierend auf internen Sensordaten vorherzusagen. Zur Vorhersage der Prozesskräfte werden Methoden der linearen Regression, der künstlichen neuronalen Netze und des Entscheidungsbaums vorgestellt. Weiterhin wird die sogenannte „K-Nearest-Neighbour-Methode“ zur Vorhersage von Material, Vorschubgeschwindigkeit und Schmierzustand verwendet. Diese automatische Prozessüberwachung minimiert die manuelle Kontrolle und die Nacharbeit. Eine umfassende Qualitätssicherung und optimale Standzeitausnutzung sind die Folge. So wird beim semiautomatischen Bohren von Flugzeugstrukturen eine wesentliche Produktivitätseinschränkung überwunden.
Kontrolle durch Prozessprognosen
Die Flugzeugproduktion erfordert eine hohe Zahl präziser Nietbohrungen in der Fertigung von Schalen, geschlossenen Strukturen, Rumpfsektionen sowie in der Endlinienmontage. Beim A350 XWB sind zum Beispiel über 230.000 Nietbohrungen pro Flugzeug nötig [1]. Etwa ein Drittel davon wird semiautomatisch gefertigt. Das heißt, die ADUs werden per Hand von einer Bohrposition zur nächsten gebracht und in Bohrschablonen arretiert. Eine solche Bohrschablone mit ADU zeigt Bild 2, rechts oben auf dem Monitor. Wegen der hohen Qualitätsanforderungen in der Flugzeugproduktion werden Mängel an sicherheitskritischen Bauteilen schnell teuer oder bedeuten Ausschuss. Bauabweichungen, von denen beim A350 XWB in 2015 etwa die Hälfte mit Bohrungen zusammenhingen, was Kosten von etwa 400 Millionen Euro verursachte, müssen dem Kunden teilweise gemeldet werden, weil sie sich auf Instandhaltung, Ersatzteilbereitstellung und Betrieb des Flugzeugs auswirken können [1]. Zur Identifizierung von Fehlern beim Bohren fallen deshalb aufwendige Kontrollen und unter Umständen Nacharbeiten und Reinigungsprozesse an. Das Ziel der vorliegenden Forschung ist es deshalb, Ausschuss- und Nacharbeitskosten sowie den Aufwand bei der nachgelagerten Kontrolle und der Reinigung bei Nietbohrungen zu minimieren.
Erreichbar wird das über die Prognose von Prozesskräften sowie mit einer Erkennung von Prozesseigenschaften aus internen ADU-Sensordaten mithilfe des ML. Zukünftig sollen die dafür trainierten Modelle zur In-Prozess-Überwachung beim semiautomatischen Bohren mit ADUs eingesetzt werden. Die Anwendung von ML ist vorteilhaft, weil Bohrungen durch ihre Anzahl und Wiederholbarkeit eine ideale Datenquelle sind. Die Berechnung der Modelle kann entweder lokal an der Maschine erfolgen (Edge Computing) oder zentral auf einem Hauptserver. In Kombination mit einer Lokalisierung der ADU (etwa per Ultraschall) sind die errechneten Prozesseigenschaften sofort mit den hinterlegten vergleichbar. Die Verbindung der sogenannten „SmartADU“ mit weiteren Systemen per Hauptserver ist in [2] beschrieben und wird durch Bild 1 verdeutlicht.
Passende Datenverarbeitung
Die aus den Modellen ermittelten Prozesskräfte beim Bohren sind die Vorschubkraft und das Schnittmoment. Deren Prognose ist sinnvoll, weil sich so der Verschleißzustand der teuren Werkzeuge, der Prozessrandbedingungen, die tatsächlich ausgeführten Prozessparameter sowie der aktuell bearbeitete Werkstoff ermitteln lassen. Besonders hilfreich für die Prognose mit der „SmartADU“, die eine neue Generation von ADUs darstellt, sind die zwei Elektromotoren, welche gemeinsam auf ein Planetengetriebe wirken. Einer davon liefert vorrangig die Leistung für die Vorschubbewegung, der andere sorgt für die Drehung der Bohrspindel. Die resultierenden Zusammenhänge von Vorschubkraft Ff und Vorschubmotorstrom IFM sowie Schnittmoment MC und Spindelmotorstrom ISM zeigt Bild 3.
Die als Merkmale für die Kraftvorhersage genutzten Features fließen in die zum Vergleich erstellten Benchmark-Modelle ein. Diese bilden sowohl die lineare Regression (LR), künstliche neuronale Netze (englische Abkürzung = ANN) als auch den Entscheidungsbaum (Decision Tree = DT) ab. Die gewählten Features sind die geglätteten Stromsignale, die Vorschübe sowie die Bearbeitungszeit. Betrachtet man die normierte Bearbeitungszeit t (für jede Bohrung von 0...1), kann man zwischen verschiedenen Bohrsituationen (Werkzeugeintritt, Vollschnitt, Werkzeugaustritt) unterscheiden. Für den Vorschub f wird der Wert invertiert – eine Folge der Zusammenhänge von mechanischer und elektrischer Leistung. Für die ML-Methoden von LR, ANN und DT wurden als Features Kombinationen von IFM, ISM, 1/f und t sowie quadratische und Interaktionsterme (etwa IFM2 oder IFM × ISM) getestet. Darüber hinaus wurden methodenspezifische Einstellungen, sogenannte Hyperparameter, systematisch variiert. Dies waren Neuronen- und Layer-Anzahl für das ANN, die Art der Terme in der linearen (und quadratischen) Regression und die minimale Blattgröße des DT. Die entsprechenden Modelle wurden in Matlab implementiert. Zum Methodentest wurden bei der Vorhersage von Vorschubkraft und Schnittmoment nur Trainingsdaten von Bohrungen in Titan verwendet. Bei der Anwendung waren es auch Daten von Bohrungen in Aluminium.
Zur Erkennung der Prozesseigenschaften wurde die „K-Nearest-Neighbour-Methode“ angewendet. Mit ihr gelingt das Clustering zur Unterscheidung diskreter Zustände. Trainiert wurde das Modell zur Vorhersage von Vorschub, Schmierungszustand und Werkstoff. Im Gegensatz zur Vorhersage der Prozesskräfte fand hier keine Regression, sondern eine Klassifizierung statt.
Nach der Vorbereitung der Daten (Glättung, Synchronisierung, Normalisierung) wurden diese, gemäß Hold-out-Validation passend in Sets aufgeteilt. Die Verteilung der Daten in Trainings-, Validierungs- und Test-Set erfolgte in Set-Größen von jeweils 60, 20 und 20 Prozent – ähnlich, wie in [5] beschrieben.
Die Ergebnisse
Wie Bild 4 verdeutlicht, war LR nicht nur für die Prozesskraftvorhersage von Titan-, sondern auch von Aluminiumbohrungen geeignet, weil allgemein geringere Vorhersagefehler (RMSE) vorlagen. Von Vorteil sind die geringen Modellgrößen und die kurzen Rechenzeiten bei Training und Vorhersage. Die ANN zeigten die niedrigsten RMSE im Test-Set für Titan. Sie führten zu mittleren Modellgrößen und Rechenzeiten. Jedoch war die Vorhersage der Vorschubkräfte in Aluminium mit hohen RMSE verbunden, was gegen eine Generalisierbarkeit der Vorhersagen spricht. Die DT bei Aluminium waren bei geringen Rechenzeiten, aber hohen Modellgrößen unzuverlässig und deshalb ungeeignet.
Die Vorhersage der Prozesseigenschaften zeigt Bild 5. Mithilfe der „K-Nearest-Neighbour-Methode“ wurde der Vorschub mit einer maximalen Fehlerrate von 14 Prozent, der Unterschied zwischen trockener Bearbeitung und voller Schmierung mit einer Fehlerrate zwischen 4 und 6 Prozent sowie das Material mit einer Fehlerrate zwischen 4 und 5 Prozent vorhergesagt. Die Vorhersagefehler betrafen üblicherweise nicht den Vollschnitt des Bohrers, weil dabei Leerlaufströme der Elektromotoren kaum stören.
Das bedeutet, dass ML-Methoden auf Nietbohrungsprozesse mit semiautomatischen ADU erfolgreich angewendet werden können. Die Grundlage für eine Online-Prozessüberwachung wurde so geschaffen, die in Zukunft am IPMT mithilfe von zusätzlicher Sensorik weiterentwickelt wird. MM
Literatur
[1] Airbus Group: Qualität – Besser Bohren. ONE – Airbus News For Airbus People, S. 28, (2015).
[2] Hintze, W., Loedding, H., Friedewald, A., Mehnen, J., Romanenko, D., Moeller, C., Brillinger, C., Sikorra, J. N.: Digital assistance systems for smart drilling units in aircraft structural assembly. 7th International Workshop on Aircraft Systems Technologies, pp. 255-266, (2019).
[3] Mehnen, J.; Hintze, W.: Prozessüberwachung durch Machine Learning beim semi-automatischen Nietbohren in der Luftfahrtindustrie. METAV-Digital 2021 Websession im Bereich "Intelligente Produktion", Vortrag, 08. April 2021
[4] Köttner, L.; Mehnen, J.; Romanenko, D.; Bender, S.; Hintze, W.: Process monitoring using machine learning for semi-automatic drilling of rivet holes in the aerospace industry. In: Behrens, B.-A.; Brosius, A.; Hintze, W.; Ihlenfeldt, S.; Wulfsberg, J. P. (Eds.): Production at the leading edge of technology, Proceedings of the 10th Congress of the German Academic Association for Production Technology (WGP), Dresden, September 23 - September 24, Springer-Verlag, Berlin, 2020, S. 497-507, ISBN 978-3-662-62137-0
[5] Caggiano, A., Rimpault, X., Teti, R., Balazinski, M., Chatelain, J. F., Nele, L.: Machine learning approach based on fractal analysis for optimal tool life exploitation in CFRP composite drilling for aeronautical assembly. CIRP Annals 67.1, pp. 483-486, (2018).
* Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Hintze hat den Lehrstuhl für Produktionstechnik am Institut für Produktionsmanagement und -technik (IPMT) der Technischen Universität Hamburg inne, M.Sc. Jan Mehnen, M.Sc. Lars Köttner und Dipl.-Ing. Denys Romanenko sind wissenschaftliche Mitarbeiter am IPMT. Weitere Informationen: www.tuhh.de/ipmt/das-ipmt/
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