MM – Die Chefsache Industrie 4.0 ist noch in der Warteschleife
Das Konzept Industrie 4.0 verspricht durchgängige Lösungen für Industriebetriebe. Doch was steckt dahinter? Wie weit ist der Mittelstand? Taugt es als Blaupause auch für kleine Unternehmen? Nachdem wir in Ausgabe 46 eher über die Großen berichteten, hat der MM jetzt vier Chefs mittelständischer Unternehmen an den Tisch geholt, die überraschende Aussagen machen.
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Nur ein Drittel des deutschen Maschinenbaus befasst sich mit der Digitalisierung der Produktion. Dies ist ein erstaunliches Ergebnis der Industrie-4.0-Readiness-Studie der Impuls-Stiftung des VDMA (Bild 1). Es ist nicht der einzige Widerspruch im Zusammenhang mit einem Projekt, das laut Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel immerhin „für unseren Wohlstand von entscheidender Bedeutung“ ist. Der MM wollte es aus erster Hand erfahren und hat im Rahmen von „MM – Die Chefsache“ vier mittelständische Geschäftsführer um eine Positionsbestimmung gebeten. Dr.-Ing. Gunther Kegel, Chef von Pepperl + Fuchs hält die Fahne für den Mittelstand hoch: Man habe schon den Umbruch erkannt und sich gefragt, wie sich das eigene Unternehmen durch die digitalen Techniken und Medien verändern muss, aber auch, wie sich die Produkte und Dienstleistungen verändern müssen. Doch er stellt gleich zu Beginn klar: „Wir sind noch ganz am Anfang, wenn man das Thema Industrie 4.0 betrachtet.“
Man sei noch dabei, als Grundlagenarbeit Standards verbindlich festzulegen: „Wir begleiten die gesamte Normung und die Arbeiten der Plattform Industrie 4.0 im ZVEI intensiv mit erheblicher Manpower.“ Schmunzelnd fährt Kegel fort: „Industrie 4.0 ist für uns Chefsache, weil alle anderen Wichtigeres zu tun haben.“
Weiter zeigt die Studie (Bild 2) aber auch, dass sich vor allem die kleineren Unternehmen kaum mit der Thematik beschäftigen. Für Dr. Omar Sadi ist das vollkommen klar, weil die kleineren Unternehmen einfach nicht die entsprechenden Ressourcen hätten. Es sei für sie schwierig, die entsprechenden Leute zur Mitarbeit in den Verbänden zur Verfügung zu stellen. „Damit besteht die Gefahr, dass solche Unternehmen abgehängt werden“, warnt der Technikchef von Getriebebau Nord. Deshalb sei es ganz wichtig, entsprechende Anreize zu schaffen und die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Dies sei in erster Linie auch eine Aufgabe der Verbände, um die kleinen Unternehmen mitzuziehen, erklärt Sadi.
Kleinere Unternehmen beschäftigen sich kaum mit dem Thema Industrie 4.0
„Auch bei den kleinen Unternehmen muss man unterscheiden zwischen den eigenen Produkten und der Produktion“, wendet Prof. Dr.-Ing. Holger Borcherding ein. Bei den eigenen Produkten sieht er sie deutlich weiter. Doch wenn solch ein Unternehmen nur fünf Leute habe, sei es damit wohl überfordert, viele der Ideen, die in Industrie 4.0 mit der Digitalisierung aufgebracht werden, auch wirklich umzusetzen. Es seien ja auch viele informatiklastige Gedankengänge und ein Maschinenbauer stelle einen Informatiker in erster Linie nun mal für die eigene EDV ein, so der Innovationschef von Lenze. „Das Ganze in die Produktion zu übersetzen, dauert noch eine ganze Zeit.“
Zu bedenken sei auch, wenn der Laden bei den Unternehmen laufe, warum sich die Firmen dann ändern sollten. Die mit Industrie 4.0 einhergehende Flexibilisierung sei bei kleinen Betrieben ja schon gegeben. Eine Änderung komme erst dann, wenn es darum gehe, noch höhere Anforderungen zu erfüllen. Womit erst mittelfristig zu rechnen sei, so der Hochschulprofessor.
Nutzenversprechen, die man heute kommuniziert, sind eher nebulös
„Viele kleine Unternehmen haben ja nicht einmal eine Produktion“, ergänzt der Chef von Pepperl + Fuchs. Diese sei oft nach außen vergeben. „Ich mache mir über die Geschwindigkeit dieser Unternehmen keine Sorgen“, fährt Kegel fort, diese würden schon rechtzeitig der Industrie-4.0-Idee folgen. Ehrlicherweise müsse man auch sagen, dass die Nutzenversprechen, die man heute kommuniziere, eher nebulös seien, sagt Kegel, der auch dem Bereich Automation des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie vorsteht. „Erst wenn das Nutzenversprechen klar kalkulierbar wird, werden nicht nur die Kleinen, sondern in einer großen Vielzahl auch andere Kunden aufspringen“, so Kegel. Bis jetzt sei man aber noch nicht so weit, ein Versprechen zu einem klar kalkulierbaren Nutzen geben zu können.
„Das Problem ist“, so der Industrie-4.0-Chef von Sick, „dass die Use-Cases noch fehlen.“ Dass man den Benefit noch nicht beschreiben könne und die Architekturen für die Kleinen zu komplex und kompliziert seien, um für sich umzusetzen, was dann noch an Vorteil übrigbleibe. „Wenn man verstanden hat, was sich wirklich für ein Nutzen ergibt, dann werden die Kleinen ganz zügig auf den Industrie-4.0-Zug aufspringen“, glaubt auch Müller. Aber im Moment seien die Unternehmen mit dem Istzustand zufrieden, weil ja alles funktioniere. Viele denken deshalb, dass es nicht notwendig sei, etwas zu ändern.
Sadi ergänzt: Zwar hätten Unternehmen mit 100 Mann die Ressourcen, das Know-how und das Problembewusstsein, „doch wenn ich als Geschäftsführer eines Unternehmens einen Mitarbeiter zur Verfügung stelle, der gleichzeitig die IT macht und in der Entwicklung mitarbeitet, dann warte ich lieber ab, bis das Ganze messbar ist.“ Und der Druck werde sicher auch dort vom Anwender her kommen. „In vielen Gesprächen mit Kunden werden wir gefragt: Was ist mit Industrie 4.0? Beschäftigt ihr euch damit?“ Auch dies sei für Getriebebau Nord ein Grund, sich mit der Thematik zu beschäftigen, so der Technikchef. „Wenn der Druck vom Kunden kommt, dann müssen auch die kleinen Unternehmen mitziehen.“
Das Thema Industrie 4.0 ist nicht nur ein Produktionsthema. Allerdings, so Müller, fokussiert man sich im Moment noch stark darauf, dort die Abläufe effizienter zu gestalten. „Ich glaube, dass der Nutzen erst dann richtig entsteht, wenn die ganze Wertschöpfungskette vom Lieferanten bis zum Kunden integriert ist.“ Das gebe es aber heute, außer in Pilotanwendungen, noch nirgends so richtig. Bei Sick selbst sei man eher von der Produktionsseite her dazugekommen und man habe sich gefragt: „Wie bekomme ich das Thema im Produktionsbereich in den Griff?“, gesteht der Industrie-4.0-Fachmann.
Grenzkostenschnitt verschiebt sich und die Automatisierung wird preiswerter
Die wesentlichen Verbesserungen von Industrie 4.0 könne man laut Kegel in wenigen Aussagen zusammenfassen. Losgröße eins wirtschaftlich zu erreichen, sei das erste Versprechen von Industrie 4.0. Dabei sei der Stückpreis des Produktes gar nicht so relevant, „entscheidend ist, wir verschieben den Grenzkostenschnitt und sind in der Lage, deutlich kleinere Stückzahlen vollständig zu automatisieren“, so der Chefdenker von Pepperl + Fuchs. Durch die Vernetzung werde die Automatisierung preiswerter, es gebe weniger Schnittstellen und die Verbindung der Maschinen werde deutlich einfacher, weil ein Standard hinterlegt sei.
Doch wie sieht es bei der Bestellung aus? Hier könnte man ja über Edifact die Daten den Unternehmen direkt digital zukommen lassen. „Nicht einmal 15 % der Händler machen das“, wendet Kegel ein, „weil auch da die Grenzkosten hoch sind. Wenn Sie eine Schnittstelle zum Händler aufbauen, müssen Sie 30.000 bis 40.000 Euro auf den Tisch legen.“ Das sei noch zu teuer. Würden die Kosten auf 3000 bis 4000 Euro sinken, hätten Sie jeden zweiten Händler am Netz. Das gelte auch bei den Lieferanten. „Dort sind es etwas mehr, weil wir diese anders unter Druck setzen können“, verrät der Pepperl + Fuchs-Chef.
In MM 3/4 2016 lesen Sie überraschende Antworten auf die Frage nach der Security. Während viele dies als Problem auf dem Weg zu Industrie 4.0 ansehen, ist die Frage für einige längst gelöst. Welche Teilnehmer viel größere Probleme mit Kuckuckseiern, die ins Nest gelegt wurden, sehen, lesen Sie im zweiten Teil.
MM
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