Industrie 4.0 Mehrwert aus Blech und Daten

Autor Stéphane Itasse

Im Vorfeld der Messe Blechexpo 2017 wird wieder deutlich: Auch in der Blechbearbeitung kommt man nicht mehr am Thema Industrie 4.0 vorbei. Jenseits von allen Schlagworten arbeiten die Unternehmen daran, den Begriff jetzt mit Mehrwert für den Anwender auszustatten.

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Was bringt Industrie 4.0 für die Blechbearbeiter? Die Antwort auf diese Frage ist noch lange nicht abgeschlossen.
Was bringt Industrie 4.0 für die Blechbearbeiter? Die Antwort auf diese Frage ist noch lange nicht abgeschlossen.
(Bild: AP&T)

Bei den Umformpressen stimmen die Hersteller ihre Kunden auf Industrie 4.0 ein. „Alle Pressen sind für Industrie-4.0-Anwendungen vorbereitet“, sagt Christer Bäckdahl, Chief Technical Officer Product Development des schwedischen Herstellers AP&T, auf Anfrage von MM Maschinenmarkt. Alle Anlagen würden mit der Konnektivität und dem Fernzugriff ausgestattet, allerdings nur wenige Pressen bereits mit der Plattform für die Datenakquisition beziehungsweise für Industrie 4.0 ausgerüstet.

Schuler rüstet die meisten Transferpressen mit Optimizer aus

Auch beim Göppinger Hersteller Schuler verfügen die meisten Transferpressen mittlerweile über einen Optimizer, der in der Pressensteuerung Bestandteil der Visualisierung ist. „Die intelligente Software sorgt dafür, dass Pressenstößel und Transfer optimal zusammenspielen, und berechnet optimale Bewegungskurven“, erläutert Tobias Schwarz, Leiter Entwicklungskonstruktion bei Schuler. Anhand vorgegebener Werkzeugdaten in Millimetern, also ohne die Eingabe abstrakter Kurbelwinkel, kann nach seinen Worten der Bauteiltransport von einer Werkzeugstufe in die nächste optimiert werden. „Auf dieser Grundlage lässt sich die Leistungsfähigkeit der gesamten Anlage ausreizen“, sagt Schwarz.

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Dieser Optimizer ist auch das Herzstück des Smart Assist, der zusätzlich zur Pressensteuerung auch auf einem Tablet oder ähnlichem mobilen Endgerät läuft. Der elektronische Helfer generiert nicht nur die Bewegungskurven von Stößel und Transfer automatisch, wie der Leiter Entwicklungskonstruktion berichtet, sondern führt den Pressenbediener auch mithilfe von Videos und Grafiken Schritt für Schritt durch den Einrichtvorgang und überträgt die gespeicherten Daten anschließend an die Anlage. „Dadurch wird das Einrichten von Transferpressen deutlich beschleunigt“, erläutert Schwarz.

Ausbringung mit Industrie-4.0-Features um 20 % erhöht

Der Smart Assist ist wiederum Teil des „Smart Press Shop“, in dem Schuler seine Anwendung zur Vernetzung in der Umformtechnik sammelt. Dazu zählen nach Angaben von Tobias Schwarz das Machine Monitoring System, ein umfassendes Modell zur Anlagenüberwachung etwa zur zustandsorientierten Instandhaltung und Erhöhung der gesamten Anlagen­effektivität, sowie die Service App für Smartphones mit Ersatzteil-Scanner, die bereits mehrere Tausend Mal heruntergeladen wurde.

„Der Automobilzulieferer Läpple Automotive hat durch den Optimizer eine Erhöhung der Ausbringungsleistung von bis zu 20 % erreicht“, sagt Schwarz. Denn mit den digitalen Werkzeugen lässt sich bereits eine ganze Reihe von Verbesserungen erzielen. „Weniger ungeplante Unterbrechungen, kürzere Unterbrechungen, eine bessere Vorhersage in der Produktion und eine vorausschauende Wartung, die den Notwendigkeiten entspricht, zum Beispiel wenn die Presse im Voraus mitteilt, wann eine Pumpe gewartet werden muss“, nennt Bäckdahl bereits erreichte Fortschritte. Der Anwender kann damit den tatsächlichen Gebrauch und die Produktion auf eine standardisierte Weise messen und auch über einen Fernzugriff via Tablet oder Smartphone Transparenz schaffen.

Weitere Verbesserungen durch digitale Werkzeuge erwartet Bäckdahl bei der Prozessüberwachung von kritischen Parametern, beispielsweise beim Pressenhub. „Damit können sowohl langfristige als auch plötzliche Veränderungen detektiert werden“, sagt er. Allerdings sind für die Produktivitätsfortschritte noch keine genauen Zahlen vorhanden. „Die Verbesserungen hängen auch davon ab, von welcher Basis aus der Kunde startet, und von der Effizienz der Analysewerkzeuge, die sich ständig weiterentwickeln und neue Erkenntnisse bringen“, erläutert Bäckdahl. Insgesamt erwartet er einen höheren und besser vorhersagbaren Ausstoß.

Prozesskette der Blechbearbeitung hat durch Industrie 4.0 noch Potenzial

Auch Schwarz sieht in der gesamten Prozesskette noch viel Potenzial, das sich mithilfe von Anwendungen aus dem Smart Press Shop in Zukunft heben lassen wird. „Es ist allerdings im Moment noch zu früh für eine detaillierte Auswertung“, antwortet er auf die Frage nach einem bereits erreichten Mehrwert.

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Bei den Herstellern von Biegemaschinen geht nichts mehr ohne Industrie 4.0. „Die Prinzipien von und Gewinne durch Industrie 4.0 diskutieren wir mit fast jedem Kunden weltweit“, berichtet Matthew Fowles, Marketingleiter beim belgischen Hersteller von Blechbearbeitungsmaschinen LVD auf Anfrage von MM Maschinenmarkt. Die Reaktionen seien positiv: „Die Kunden mögen unsere realistische Herangehensweise und praktischen Ratschläge, die wir ihnen dazu geben, was Industrie 4.0 für sie bedeutet und welche Vorteile ein integriertes Industrie-4.0-System ihnen bringen kann“, sagt er weiter. Auch Florian Langer, der bei Trumpf die digitalen Services für Werkzeugmaschinen leitet, berichtet von ähnlichen Erfahrungen: „Wir erhalten sehr gutes Feedback von ganz unterschiedlichen Kunden. Wir haben Kunden, die mit unseren Angeboten in die Industrie 4.0 einsteigen. Genauso gibt es Kunden, die bereits eine sehr klare Vorstellung haben, was sie durch unsere Zusammenarbeit erreichen möchten. Das Feedback reicht bis zu Dank für konkreten Return on Investment.“

Einsatz von Big Data kann die Effizienz stark steigern

Dank der Verfügbarkeit von Big Data könnten die Kunden große Veränderungen bei ihrer Effizienz bemerken, die sie dazu befähigt, die richtigen Entscheidungen treffen, wie Fowles erläutert. „Typischerweise können wir eine Steigerung des jährlichen Wachstums von bis zu 15 % erwarten“, sagt er. Langer geht sogar noch weiter: „In puncto Gesamtproduktivität konnten wir bis zu 30 % Verbesserung mit unseren Smart-Factory-Angeboten erreichen.“ Allerdings hat es aus seiner Sicht mehr Sinn, sich die Potenziale für Teilbereiche der Wertschöpfungskette anzuschauen. „Hier sehen wir vor allem in den indirekten Bereichen wie Kalkulation, Arbeitsvorbereitung, Planung, Intralogistik oder Verbesserungen für Maschinenbediener ein Potenzial von 50 bis 80 % Verbesserung“, sagt der Trumpf-Manager.

Eine Voraussetzung müssen die Kunden allerdings erfüllen, um Industrie 4.0 erfolgreich einführen zu können. „Sie sollten offen sein für eine etwas andere Art zu arbeiten und gewillt, ihre Methoden zu ändern“, sagt Fowles. Noch deutlicher wird Langer: Der Kunde müsse bereit sein, seinen gesamten Geschäftsprozess unter die Lupe zu nehmen, und verstehen, dass die eigenen Prozesse ernsthaft hinterfragt werden müssten. „Einen schlechten Prozess zu digitalisieren, führt einfach nur zu einem schlechten, aber eben digitalen Prozess“, stellt er klar.

Der Weg zu Industrie 4.0 ist für LVD auch noch nicht zu Ende. So will der belgische Maschinenbauer auch Anlagen anderer Hersteller mit seiner Software verknüpfen, wie Fowles ankündigt. Auch sollen andere Operationen auf Blechteilen ermöglicht werden als die bisher in der Software enthaltenen – dies sind das Lasern, Stanzen, Schneiden, Sortieren und Biegen. Langer sieht für Trumpf eine immer größere Nachfrage nach Gesamtsystemen. „Das heißt, wir verkaufen nicht nur Maschinen, sondern beraten und verkaufen oftmals dann Hardware, Software und Services. Damit lösen wir komplexe Herausforderungen unserer Kunden.“ Zum anderen gehe Trumpf das Thema „Digitale Erweiterung der Maschine“ an und sorge dafür, dass die Kunden nicht nur Daten von den Maschinen erhielten, sondern Informationen, die ihnen einen konkreten Mehrwert böten.

Industrie-4.0-Software kommt gut an

Bei den Schwenkbiegemaschinen-Herstellern hat RAS Reinhardt bereits im vergangenen Jahr die Software Bendex als Schritt in Richtung Industrie 4.0 vorgestellt. Es gibt sie in zwei Ausprägungsstufen, als Software für die Maschinen mit der 1-Klick-Programmierung der Biegeteile und als ERP-Software Bendex professional zur Auftragsbearbeitung. „Diese reicht beispielsweise bei Spenglern und Fassadenbauern von der Profilaufnahme auf der Baustelle über die Kalkulation, automatische Angebotserstellung, die Einlastungen der Aufträge, eine Verschnittoptimierung bis hin zum Senden der Aufträge an die Maschinen und die nachträgliche Aufbereitung der Versandpapiere“, sagt Willy Stahl, Geschäftsführer des Sindelfinger Maschinenbauers. Die Maschinen- und Office-Software kaufe fast jeder Kunde zusammen mit der neuen Maschine, berichtet Stahl. Die ERP-Software sei bei etwa 60 Kunden mit unterschiedlichem Funktionsumfang im Einsatz.

Mehrere Faktoren führen zum Produktivitätsgewinn

Der Produktivitätsgewinn für die Kunden setzt sich laut Auskunft von Stahl aus mehreren Faktoren zusammen. Diese sind einerseits maschinenbedingt, andererseits werden sie durch die Software beigesteuert. Grundlage des Vergleichs ist für ihn eine typische Investitionsentscheidung für den Einstieg ins automatisierte Biegen. Dabei vergleicht er die Rentabilität einer aktuellen Gesenkbiegepresse mit einer automatisierten Biegezelle, die mit der Bendex-Software ausgestattet ist. „Die 1-Klick Programmierung der Biegeteile ausgehend von Step-Dateien reduziert die Programmierzeit um den Faktor 10, die Rüstzeit bei mittelkomplexen Biegeteilen um den Faktor 15. Zusätzlich verringert sich der Abstimmungsaufwand zwischen Konstruktion und Produktion auf 25 %, weil der Konstrukteur durch die Simulation des Biegeablaufs selbst beurteilen kann, ob sich eine konstruierte Komponente auch biegen lässt“, sagt er. In Summe errechnet er damit eine Steigerung der Produktivität um 640 %. Dabei sei die Erstteilgenauigkeit durch clevere Programmieralgorithmen noch nicht berücksichtigt.

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„Die Potenziale zur Produktivitätssteigerung an der Maschine sind immer noch hoch. Weit größere Effizienzsteigerungen sehen wir aber in der Auftragsbearbeitung in Vertrieb und Arbeitsvorbereitung“, erläutert Stahl weiter. Hier biete Bendex professional als ERP-Plattform einen Mehrwert. Dazu gehören für Stahl ein Shop zum Ordern von Biegeteilen, automatische Kalkulation und Angebotserstellung, Verschnittoptimierung, Ablaufplanung und Fertigungssteuerung sowie DXF-Export der Platinengeometrie an Stanzmaschinen oder Laser.

Daten ermöglichen neue Konzepte

„Industrie 4.0 ist für viele ein Schlagwort, das sich schrittweise mit Leben füllt“, sagt Stahl weiter. Der datentechnische Überblick ist nach seinen Worten Voraussetzung für Weiterentwicklungen und neue Features im Biegeprozess. Er ist aber auch notwendig für neue Konzepte, etwa bei Wartung und Onlinesupport. Schon heute erfolge die automatische Programmierung der Biegeteile mit den aktuellen Parametern der Maschine. Hat der Kunde zum Beispiel zwei Maschinen eines Typs im Einsatz, kann Maschine 1 mit anderen Werkzeugen ausgestattet sein als Maschine 2. „Durch eine Vernetzung von Maschine und Office-Software erzeugt die 1-Klick-Programmierung unterschiedliche Programme für die beiden Maschinen. Solche individuellen Aspekte werden bei Industrie 4.0 noch weit größeren Raum einnehmen“, erwartet der Geschäftsführer von RAS Reinhardt.

Wie ein solches Industrie-4.0-System in der Produktion auch bei kleinen Stückzahlen lohnend sein kann, hat kürzlich der Rohrbearbeitungsmaschinen-Hersteller Transfluid auf der Messe EMO Hannover gezeigt. „Was vor allem für die Automation bei kleinen Stückzahlen spricht, ist ja die Prozesssicherheit und natürlich die Möglichkeit, Daten exakt auszulesen. Stichwort Industrie 4.0“, erläutert Stefanie Flaeper, Geschäftsführerin bei Transfluid. „Hinzu kommt die mitarbeiterunabhängige Fertigung. Und bei der automatisierten Bearbeitung hat der Prozess einen starken Einfluss auf nachfolgende Abläufe, wie bei der Montage von Baugruppen. Hier bietet eine Automatisierung relativ viel Planungssicherheit.“ Kundenseitig war beim Projekt ein Automationssystem für die Bearbeitung von Chrom(VI)-freibeschichteten Rohren sowie von Rohren mit pulverbeschichteten Oberflächen, die sehr empfindlich sind, gefragt. Die Werkstücke konnten 150 bis 3000 mm lang sein und die Beladung sollte automatisch erfolgen. Darüber hinaus war das Aufziehen von Schneidringen gewünscht sowie das Montieren von Flanschen, das Herstellen von Schlauchsicken und die rechts/links-biegende Weiterverarbeitung der Rohre.

In der nun erstellten Fertigungszelle werden die Werkstücke nach dem Trennvorgang in einen Schieberförderer zur automatischen Vereinzelung geladen. Für die pulverbeschichteten Rohre ist eine separate Beladung vorgesehen, weil hier nur sehr kleine Mengen zugeführt werden, um Beschädigungen zu vermeiden. Eine axiale Umformmaschine stellt die Sicken beziehungsweise Schlauchanschlüsse her, auf einer zweiten Umformmaschine können die Flansche zugeführt und fixiert werden. Anschließend werden die Rohre in einer Biegemaschine positioniert, gebogen und kontrolliert abgelegt. Das gesamte Handling nach der Vereinzelung zu den Maschinen erfolgt über einen Roboter.

Für die Zukunft vorbereiten

Bei Rohren, die in Hydrauliksystemen zum Einsatz kommen, steht im Bearbeitungsprozess der Biegezelle zunächst das Rechts/Links-Biegen auf einer voll­elektrischen Maschine an. Im Anschluss daran positioniert der Roboter das Rohr zu einer Schneidringmontage. Dort werden Mutter und Schneidring automatisch zugeführt und kontrolliert montiert. Damit werden Druck und Weg überwacht und vom System zur Nachverfolgung entsprechend dokumentiert.

Die fertigen Bauteile werden abschließend in einem fahrbaren Wagen in unterschiedliche Fächer eingelegt. Sie können so unmittelbar zur Weiterverarbeitung gebracht werden. Der Austausch der Wagen erfolgt außerhalb der Sicherheitsabsperrung, sodass die Anlage während der Entladung kontinuierlich weiter produziert.

„Jedes Unternehmen sollte sich dieses Themas annehmen. Viele Kunden sind in der Umstellungs- beziehungsweise Einbindungsphase und wir haben viele kundenspezifische Projekte, in denen das Thema Industrie 4.0 eingebunden und umgesetzt wurde“, sagt Flaeper auf Anfrage von MM Maschinenmarkt. Ab Januar 2018 sind alle Maschinen des Unternehmens für die Nutzung vorbereitet, kündigt sie weiter an. Wichtiger als der heutige Produktivitätsgewinn ist allerdings ihrer Ansicht nach, dass die Kunden für die Zukunft präpariert sind.

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