Systementwicklung Systems Engineering: Neue Wege in der Produktentwicklung

Autor Stefanie Michel |

Um cybertronische Systeme zu entwickeln, die in einer Industrie 4.0 untereinander kommunizieren können, sind neue Wege in der Produktentwicklung nötig. Welche Rolle dabei Systems Engineering spielt, zeigt ein abgeschlossenes Forschungsprojekt.

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Bei der Entstehung cybertronsischer Systeme aus Elektronik, Mechanik und Software müssen neue Methoden in der Produktentwicklung eingesetzt werden.
Bei der Entstehung cybertronsischer Systeme aus Elektronik, Mechanik und Software müssen neue Methoden in der Produktentwicklung eingesetzt werden.
(Bild: © monsitj - stock.adobe.com / 4kstocks - Fotolia.com M)

Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2017 im MM Maschinenmarkt

Ein Auto ist heute nicht einfach eine angetriebene Blechkarosserie, ein Handy nicht einfach ein portables Telefon. Im Gegenteil: diese und viele Produkte mehr vereinen mechanische Konstruktion mit Elektronik und Softwarekomponenten. Als Konsument nimmt man das hin und erwartet schlichtweg, dass diese Komponenten alle zusammenspielen. Aber wie? Lange waren beispielsweise die Automobilhersteller, aber auch die Maschinenbauer komponentenorientiert, das heißt mechanische Konstruktion und Software waren getrennte Abteilungen. Systementwicklung ist dann eine wirkliche Herausforderung.

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Das BMBF-Verbundprojekt Mecpro² in Kürze

Das Verbundprojekt Mecpro² – Modellbasierter Entwicklungsprozess Cybertronischer Produkte und Produktionssysteme – ist komplex und nicht einfach zu verstehen. Deshalb erklären wir in Kurzform, was es damit auf sich hat:

  • Was ist Mecpro²? Mecpro² ist ein Verbundprojekt der Fördermaßnahme „Intelligente Vernetzung in der Produktion – ein Beitrag zum Zukunftsprojekt ‚Industrie 4.0’“ des BMBF-Rahmenkonzepts „Forschung für die Produktion von morgen“.
  • Wer war in diesem Projekt involviert? Industrielle Partner des Projektes sind Contact Software, Continental, Daimler, :em engineering methods, Schaeffler Technologies, Siemens, Siemens PLM Software und Unity. Außerdem sind die TU Kaiserslautern mit den Lehrstühlen FBK (Lehrstuhl für Fertigungstechnik und Betriebsorganisation), KIMA (Konstruktion im Maschinen- und Apparatebau) und VPE (Virtuelle Produktentwicklung) sowie die TU Berlin mit dem Fachgebiet KFZB (Kraftfahrzeuge) als universitäre Partner am Projekt beteiligt.
  • Was war das Ziel des Projekts? Das Ziel des Verbundprojektes ist es, Unternehmen durch geeignete Prozesse, Methoden und Tools zu einer effizienten Entwicklung von cybertronischen Systemen zu befähigen. Ein Ergebnis des Vorhabens wird ein Rahmenwerk für den Entwicklungsprozess cybertronischer Systeme sein, welches die Unternehmen bei der kooperativen Entwicklung von Produkt und zugehörigem Produktionssystem unterstützt.
  • Was wurde geschaffen? Es entstand ein Referenzprozess für die cybertronische Produktentwicklung, eine einheitliche Beschreibungssystematik in SysML, die in die internationale Normung einfließen soll und zwei Demonstratoren
  • In welcher Form wurde das Projekt gefördert? Mecpro² ist ein Verbundprojekt der Fördermaßnahme „Intelligente Vernetzung in der Produktion – Ein Beitrag zum Zukunftsprojekt ‚Industrie 4.0’" des BMBF-Rahmenkonzepts „Forschung für die Produktion von morgen“. Die Fördersumme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) betrug 2,503 Mio. Euro, das gesamte Projektvolumen lag bei 4,364 Mio. Euro.

Hier setzt das Forschungsprojekt „Mecpro2“ an, das Ende 2016 abgeschlossen und auf der Ergebniskonferenz vorgestellt wurde. Man stelle sich vor, Software-, Elektro- und Maschinenbauingenieure wollen gemeinsam sogenannte „smarte Produkte“ – zum Beispiel ein Smartphone oder ein Sensorlager wie das Variosense von Schaeffler – entwickeln und jeder spricht nur seine (Fach-)Sprache. Keiner würde den anderen tatsächlich verstehen, jeder würde mit anderen Systemen arbeiten, die Produkte wären wahrscheinlich entsprechend fehlerhaft und die Vernetzung im Sinne von Industrie 4.0 wäre nicht möglich. Es wird also Zeit, die Weichen zu stellen – so sahen es auch die Projektteilnehmer. Prof. Martin Eigner, Lehrstuhl für virtuelle Produktentwicklung an der TU Kaiserslautern und wissenschaftlicher Leiter des Verbundprojekts Mecpro2: „Wir mussten mal was machen, um die Disziplinen zusammenzubringen. Wir brauchen Respekt und ein Mindestverständnis von Software, Mechanik und Elektrik.“

Modellbasierte Entwicklung forciert diziplinübergreifende Zusammenarbeit

Die Zeit ist reif, um etwas in Gang zu setzen – vielleicht eine neue Philosophie oder Denkweise. Durch die Digitalisierung haben sich zahlreiche Produkte verändert – sowohl Consumerprodukte als auch solche in der Industrie. Gerade der Anteil an Software in den Produkten steigt zunehmend und fungiert als industrieller Innovationstreiber. So ist es nicht verwunderlich, dass Dr. Udo Judaschke von Continental Teves und Elmar Weißschuh von Daimler in ihrem Vortrag darstellen, dass 50 bis 80 % der Innovationen heute bereits auf Software basieren. Das heißt, durch die Software werden aus mechatronischen Produkten cybertronische, die Komplexität steigt dabei.

Das stellt die Unternehmen und deren Partner vor eine große Herausforderung: Wie kann man solche Produkte überhaupt produzieren – in Losgröße 1 ohne lange Entwicklungszeit? Mit den unterschiedlichen Disziplinen? „Was fehlt, ist ein integrierter Ansatz für die Entwicklung, bei dem die unterschiedlichen Disziplinen dieselbe Fachsprache sprechen“, erklärt Patrick Müller, Produktmanager PLM bei Contact Software. Ein Weg, den das Forschungsprojekt Mecpro2 aufzeigt, ist: weg von der dokumentenbasierten, hin zur modellbasierten Entwicklung. Alle Disziplinen sollen näher zusammenrücken mit SysML (Systems Modeling Language) als Bindeglied. Projektziel war es, Methoden, Prozesse und Tools zu entwickeln, mit denen Unternehmen solche cybertronischen Systeme effizient entwickeln können. Im Gegensatz zu anderen Projekten, die das Thema Industrie 4.0 nahezu ausschließlich aus Sicht der Produktion sehen, nimmt Mecpro² die Position der Produkt- und Produktionssystementwicklung ein und betrachtet bezogen auf den Lebenszyklus vorgelagerte Phasen.

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Glossar: Fachbegriffe rund um die modellbasierte Entwicklung

Zum besseren Verständnis des Artikels und des Projekts Mecpro² haben wir versucht, die Fachbegriffe verständlich zu machen.

  • CTP = Cybertronische Produkte: siehe cybertronische Systeme
  • Cybertronische Systeme: Systeme die neben der Mechanik und Elektrotechnik (= Mechatronik) auch Software integrieren.
  • MBSE = Model Based Systems Engineering: „MBSE ist der Entwurf und die Spezifikation von komplexen Systemen mit Hilfe von Modellen. (...) Im MBSE werden alle Aspekte eines Systems durch Modellelemente und Beziehungen zwischen diesen Modellelementen festgehalten.“ [Tim Weilkiens; Mehr hier]
  • PEP = Produktentwicklungsprozess: Die Gesamtheit aller Prozessschritte von der Produktidee (Fiktion) bis hin zum fertigen, physischen Produkt.
  • PLM = Product Lifecycle Management: PLM ist ein Ansatz zur ganzheitlichen, unternehmensweiten Verwaltung und Steuerung aller Produktdaten und Prozesse über den kompletten Lebenszyklus.
  • Simultaneous Engineering: Viele Bereiche arbeiten heute während der Produktentwicklung an den Produkten mit. Das erfolgt nicht hintereinander, sondern simultan, die aktuellen Entwicklungsstände müssen ständig synchronisiert werden.
  • SysLM = System Lifecycle Management: Ähnlich wie PLM ist SysLM ein Konzept, um ein komplexes System über den kompletten Lebenszyklus zu definieren. Dieses Informationsmanagement ist ein um Systemmodelle erweitertes PLM.
  • SysML = Systems Modeling Language: Die grafische, standardisierte Modellierungssprache kommt beim Systems Engineering zum Einsatz, um komplexe Systeme zu beschreiben. Sie basiert auf UML.
  • Systems Engineering: Mit Systems Engineering werden interdisziplinär komplexe Systeme aufgebaut. Das geht über die Konstruktion hinaus und bedarf ein umfassendes Systemverständnis.
  • UML = Unified Modeling Language: Eine grafische Modellierungssprache, die meist für die Softwaresystem-Modellierung eingesetzt wird. Sie beschreibt die Anwendung und die daraus entstehenden Anforderungen.
  • V-Modell: Hiermit ist nicht das V-Modell für die Softwareentwicklung gemeint, sondern das für mechatronische Systeme nach VDI-Richtlinie 2206. Es beschreibt eine Vorgehensweise, die von Allgemeinen (System) bis hin zur Komponenten zunächst Anforderungen definiert

Bereits heute werden das Produkt und das dazugehörige Produktionssystem nicht mehr nacheinander entwickelt. Heute ist das Zusammenspiel ist allerdings geprägt von Medienbrüchen, Missverständnissen und der Notwendigkeit, dass Ingenieure die Informationen aus der Produktentwicklung interpretieren und in die Entwicklung des Produktionssystems einbringen. In Zukunft müssen die Informationen von Anfang an maschinenlesbar und lückenlos digital und rückverfolgbar abgelegt werden.

Modellbasierter Entwicklungsprozess cybertronische Produkte

Doch was bedeutet eigentlich „Mecpro2“? Hinter dem recht undurchsichtigen Namen verbirgt sich der nicht minder sperrige Titel „Modellbasierter Entwicklungsprozess cybertronischer Produkte und Produktionssysteme“. Bei cybertronischen Systemen handelt es sich um mechatronische Systeme, die um Eigenschaften der „cyber-physical systems“ erweitert werden. Diese Eigenschaften umfassen unter anderem Vernetzung, Kommunikation, Kooperation und während des Betriebs wechselnde Systemgrenzen.

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Während des Projekts wurde nun ein Rahmenwerk für den Entwicklungsprozess solcher cybertronischen Systeme entwickelt. Dazu werden die Techniken des Model-Based Systems Engineering (MBSE) für Beschreibung der cybertronischen Systeme eingesetzt. Die Zusammenarbeit innerhalb des Entwicklungsprozesses wird durch die Integration in das Product Lifecycle Management (PLM) ermöglicht.

Als Beschreibungssystematik für die Modellierung der cybertronischen Systeme wurde SysML genutzt, mit der prinzipiell die Struktur und das Verhalten von jeglichem realen oder abstrakten System beschrieben werden kann. Über den Profilierungsmechanismus wurde SysML gemäß den im Referenzentwicklungsprozess anfallenden Informationen erweitert. Im Prinzip gibt es nun eine Anweisung, wie welche SysML-Elemente zu verwenden sind, um Produkte und Produktionslinien zu beschreiben.

Mit diesem Modell sind laut den Projektpartnern anwendende Unternehmen in der Lage, im Falle von Änderungen sehr schnell analysieren zu können, wo und wie sich diese Änderungen auf Struktur oder Verhalten auswirken. Eine solche Impactanalyse über Disziplinen und den Lebenszyklus hinweg war bisher kaum möglich. Sven-Olaf Schulze, Vorsitzender der Gesellschaft für Systems Engineering, ist sich sicher, dass diesem modellbasierten Ansatz die Zukunft gehört: „Das Modellbasierte ist das, was wir brauchen, um die Gedankenwelt überhaupt abbilden zu können. Zudem sind die Produkte heute viel zu komplex, um bei Änderungen herauszufinden, wo sich diese auswirken.“

Modellbasierte Entwicklung in der Praxis

Wie der neue Entwicklungsansatz in die Praxis überführt werden kann, zeigten auf der Abschlusskonferenz des Verbundprojekts zwei Demonstratoren von Contact Software und von Siemens PLM Software. So wurde für die PLM-Lösung CIM Database in Zusammenarbeit mit der :em Engineering Methods AG eine Direktintegration des SysML Modeling Tools „Cameo Systems Modeler“ entwickelt, mit der es nun möglich ist, SysML-Modelle sogar bis auf Elementebene herunter zu verwalten.

Das Anwendungsszenario für die Entwicklung von cybertronischen Produktionssystemen zeigt innerhalb der Siemens PLM Tool-Chain, wie über eine abstrakte Beschreibung von Produktionssystemen aus Siemens Teamcenter eine sehr frühe Materialflusssimulation in Tecnomatix Plant Simulation durchgeführt werden kann. Hierfür müssen auch Informationen aus der Produktentwicklung gezielt abgerufen und genutzt werden. Eine Änderung im Produkt kann nun direkt zu einer potenziellen Änderung im Produktionssystem verfolgt werden.

Beide Demonstratoren zeigten, dass ein interdisziplinärer Systementwurf in der frühen Entwicklungsphase möglich ist – mit SysML als gemeinsame Sprache. Ein erweitertes PLM kann die Mecpro²-Methodik abbilden und SysML-Modelle realisieren. Zudem erlaubt die modellbasierte Entwicklung eine frühe Simulation, um Produkte und Produktionssysteme möglichst früh im Entwicklungsstadium abzusichern.

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