Presshärten Smarte Modellprozesskette startet Forschungsbetrieb
Das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU hat eine selbst entwickelte, intelligente Modellprozesskette in Betrieb genommen. Damit soll das geregelte Presshärten im Sinne von Industrie 4.0 anhand seriennaher Bauteile erstmals Realität werden.
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Das Herzstück ist eine vernetzte Prozessführung über die gesamte Prozesskette. Damit lassen sich nicht nur die Taktzeiten verkürzen. Die Anlagensensorik wurde mit einer neuen Software verknüpft, die Prozessparameter mit vorher definierten Vorgaben abgleicht und Fehler umgehend rückmeldet. So kann auf Schwankungen innerhalb kurzer Zeit reagiert und Ausschuss vermieden werden. Mit einer eigens am Institut entwickelten Kontakterwärmungsanlage wird außerdem ein neuartiges Erwärmungsprinzip getestet und optimiert. Auch für den Beschnitt setzen die Fraunhofer-Wissenschaftler auf alternative Verfahren zum energieintensiven Laserstrahlschneiden.
Vom virtuellen Modell zur realen Prozesskette
Das Presshärten findet in den letzten Jahren verstärkt Anwendung in der Automobilindustrie. Ein Blechhalbzeug wird in einem Ofen auf eine Temperatur von circa 950 °C erwärmt und während der Formgebung in der Umformpresse abgekühlt. Im Vergleich zu konventionellen Verfahren kann so mit einem reduzierten Materialeinsatz die gleiche beziehungsweise sogar eine höhere Festigkeit von Strukturbauteilen erreicht werden. Die sich daraus ergebenden Leichtbaupotenziale sind nicht nur für die Automobilindustrie, sondern auch für den Landmaschinen-, Sonderfahrzeug-, Schienen-, Schiff- und Luftfahrzeugbau interessant. Die Prozessregelung ist allerdings aufgrund der Komplexität des Verfahrens, der Vielzahl an Einflussgrößen sowie des aktuell unzureichenden Prozesswissens über die Wirkzusammenhänge noch immer eine große Herausforderung in der seriennahen Anwendung.
Der Aufbau der am Fraunhofer-IWU entwickelten Modellprozesskette folgt dem Forschungsansatz des Instituts, Prozessoptimierungen nicht ausschließlich auf einzelne Prozessschritte zu beschränken, sondern in ihrer Wechselwirkung über die gesamte Prozesskette zu untersuchen. Wichtige wissenschaftliche Grundlagen zur Werkzeugkühlung, zu alternativen Erwärmungsprinzipien sowie zur Prozessauslegung wurden im Rahmen des Sächsischen Spitzentechnologieclusters Eniprod gemeinsam mit der Technischen Universität Chemnitz gelegt. Bei der Ergebnispräsentation des Clusters im Jahr 2014 wurde zudem ein virtuelles Modell der Presshärtelinie vorgestellt, das bereits Prozessdaten abbilden konnte und Voruntersuchungen zum geplanten Aufbau der Anlage am Fraunhofer-IWU ermöglichte.
Alternative Erwärmung nach dem Bügeleisenprinzip
Als Demonstratorbauteil wurde der untere Teil einer B-Säule, der so genannte B-Säulenfuß, ausgewählt. Dieses sicherheitsrelevante Bauteil bietet mit seiner komplexen Geometrie beziehungsweise seiner hohen Ziehtiefe die Möglichkeit, über die Grenzen konventioneller Presshärteverfahren hinauszugehen.
Die am Fraunhofer-IWU aufgebaute Modellprozesskette setzt sich aus vier Einzelprozessen zusammen. Die beschnittenen Einzelplatinen werden über ein am Institut entwickeltes vollautomatisches Handlingsystem transportiert, das minimale Wärmeverluste ermöglicht und den Werkstoff zunächst der Erwärmungsanlage und anschließend der Presse zuführt. Bereits hier setzen die Forscher auf ein alternatives Konzept. Konventionell kommen Rollenöfen zum Einsatz, die den Werkstoff vergleichsweise langsam erwärmen.
Um eine möglichst hohe und zudem lokal variable Aufheizrate zu erzeugen, wurde gemeinsam mit der Firma Schwartz GmbH eine neuartige Kontakterwärmungsanlage entwickelt. Ähnlich dem Bügeleisenprinzip übertragen gegenüberliegende Bügel- beziehungsweise Formplatten die thermische Energie gezielt und konturnah in bestimmte Bereiche des Werkstücks. Die Erwärmungsanlage ist zweistufig ausgelegt, sodass das Blech entweder in mehreren Schritten gleichmäßig oder zonenweise unterschiedlich erwärmt werden kann. Innerhalb der Stufen ist die Temperierung des Werkstücks in je sechs Bereichen möglich, sodass eine Art thermisches Schachbrett realisierbar ist. Damit können die Forscher im Aufheizprozess der Platine die Festigkeitsverläufe in bestimmten Bereichen der Bauteile beeinflussen, was für nachfolgende Beschnittverfahren und das Crashverhalten von Vorteil ist. Die Erwärmung wird durch besonders energieeffiziente Rekuperatorbrenner realisiert, die das Stahlblech in einer Taktzeit von minimal 15 s auf die Zieltemperatur von 950 °C bringen.
Die Werkzeugkühlung ist der Schlüsselprozess beim Presshärten
Der eigentliche Umform- und Abkühlvorgang ist der Schlüsselprozess beim Presshärten und maßgeblich für die Qualität der produzierten Bauteile verantwortlich, daher werden an die Umformanlage und das Werkzeugsystem hohe Anforderungen gestellt. Konventionell kommen hydraulische Pressen zum Einsatz. Ihr flexibles Verfahrprofil ist für den Warmumformprozess sehr gut geeignet, zeigt jedoch Defizite hinsichtlich der Verfahrgeschwindigkeit des Stößels. Servopressen hingegen bieten dank ihrer hohen Flexibilität und Verfahrgeschwindigkeit ein großes Potenzial, das Presshärten leistungsfähiger und ressourceneffizienter zu gestalten. Aus diesem Grund kommt in der neuen Prozesskette eine mechanische Multiservopresse zum Einsatz.
Bei der Gestaltung von Presshärtewerkzeugen nimmt das Temperaturmanagement eine zentrale Stellung ein, denn über die Abkühlung bestimmter Bereiche während des Umform- und Abkühlvorgangs lassen sich gezielt Bauteileigenschaften einstellen, zum Beispiel zur Verbesserung des Crashverhaltens. Die Werkzeugkühlung erfolgt konventionell über wasserdurchströmte Kühlkanäle, die nah an der Werkzeugoberfläche positioniert sind. Die Forscher gehen auch hier neue Wege und kombinieren in ihrem Versuchswerkzeug zwei verschiedene Kühlsysteme: In die Matrize wurde während des Werkzeuggusses eine Rohrstruktur eingegossen, welche nach der mechanischen Finish-Bearbeitung des Werkzeuges das Kühlsystem bildet. Der Stempel ist in Schalenbauweise konstruiert. Im Werkzeuggrundkörper sind in die Oberfläche Kanäle gefräst. Anschließend wird der Grundkörper mit einer Aktivteil-Schale abgedeckt, wodurch sich ein geschlossenes Kühlkanalsystem bildet. Dieses ist nach dem Gegenstromprinzip aufgebaut. Alle Kühlkanäle können separat angesteuert werden. Damit ist die Kühlung exakt regulierbar. Zudem hat das System einen zweiten, entscheidenden Vorteil: Im Gegensatz zu geschlossenen Kühlkreisläufen, in denen sich das Kühlmedium vom Zulauf zum Ablauf hin kontinuierlich erwärmt und somit Temperatur-Inhomogenitäten verursacht, bleibt die Kühlleistung und damit die Werkzeugoberflächentemperatur des am Fraunhofer-IWU entwickelten Kühlsystems weitgehend homogen.
Energie- und ressourceneffizientere Beschnittverfahren verkürzen Taktzeit
Der letzte Arbeitsschritt innerhalb der Modellprozesskette ist der Beschnitt beziehungsweise das so genannte Trimmen der Bauteile. Konventionell werden diese nach dem Umformvorgang abgelegt und zu Laserschneidanlagen transportiert. Da die Taktzeit des Laserbeschnitts die des eigentlichen Presshärtevorgangs deutlich übersteigt, müssen die Bauteile ausgeschleust, zwischengelagert und losgelöst von der Presshärtelinie weiterverarbeitet werden. Um die Taktzeiten der Prozesskette zu verkürzen und die Energieeffizienz zu verbessern, untersuchen die Forscher daher zwei alternative Verfahren zum Trimmen der Bauteile. Eine Variante stellt der Warmbeschnitt dar, bei dem die Schneidoperation direkt in das Umformwerkzeug integriert ist und während der Abkühlphase durch zusätzliche Aktorik im geschlossenen Werkzeug erfolgt. Dabei wird der Trennvorgang am noch nicht ausgehärteten Werkstück ausgeführt, was erforderliche Kräfte und den Verschleiß deutlich reduziert. Alternativ wurde zum Beschneiden des höchstfesten Bauteils eine separate Anlage inklusive Werkzeugtechnik in die Modellprozesskette integriert, die das Prinzip des Hochgeschwindigkeits-Scherschneidens, das so genannte adiabatische Trennen, nutzt. Die Werkzeugaktivteile werden dabei durch einen hydraulischen Impuls beschleunigt, woraufhin deren kinetische Energie beim Trennprozess nahezu vollständig in Trennenergie umgewandelt wird. In einem sehr kleinen Trennbereich steigt die Temperatur des Werkstoffs kurzzeitig stark an, wodurch dieser entfestigt wird und sich ein Scherband bildet. Durch dieses adiabatische Trennen werden eine hohe Schnittflächenqualität, eine geringe Bauteildeformation und ein geringer Werkzeugverschleiß erzielt.
Mit intelligenter Software zum geregelten Presshärteprozess
Verschiedene Daten der Einzelprozesse Handling, Erwärmung, Umformung und Beschnitt, zum Beispiel Werkstück- und Werkzeugtemperaturen, Pressenkräfte, Werkstückpositionen, werden über Sensoren erfasst, in einer am IWU entwickelten Software miteinander vernetzt und zu Informationen verdichtet. Die wissenschaftliche Grundlage bilden numerisch und experimentell gestützte Sensitivitätsanalysen, die in Form von Metamodellen mathematisch erfasst und in eine Wissensbasis integriert wurden. So lassen sich der Gesamtprozess informationsseitig abbilden und Aussagen über Wirkzusammenhänge treffen. Weichen Prozessparameter von den Vorgaben ab, können die Forscher über eine steuerungstechnische Anbindung an das Gesamtsystem direkt regulierend eingreifen. Im Ergebnis liefert diese Kombination aus effizienteren Technologien und der Vernetzung über die gesamte Prozesskette im Sinne von Industrie 4.0 wichtige praxisrelevante Erkenntnisse für einen intelligent geregelten Presshärteprozess.
* Prof. Dr. Dirk Landgrebe ist Geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in 09126 Chemnitz, Frank Schieck ist dort Hauptabteilungsleiter und Norbert Pierschel wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Hauptabteilung Blechumformung
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