Bionik Supramolekulare Materialien entsorgen sich selbst
Ob Plastikflaschen, leere Dosen, altes Spielzeug, zerrissene T-Shirts oder ausgediente Mobiltelefone: Jeden Tag produzieren Menschen Unmengen an Abfall. Um nicht im Müll zu versinken, wird recycelt. Aber was wäre, wenn sich die verwendeten Materialien nach einer gewissen Zeit von ganz alleine wieder abbauen würden?
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Das Vorbild ist die Natur. Hier gibt es in Hülle und Fülle Materialien, die sich selbst zusammenfügen und am Ende ihrer Lebenszeit einfach wieder verschwinden. Forschern der Technischen Universität München (TUM) ist es nun gelungen, supramolekulare Materialien zu entwickeln, die zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt wieder zerfallen. Eine Eigenschaft, die zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten eröffnet.
„Viele vom Menschen gemachten Stoffe sind chemisch sehr stabil. Um sie wieder in ihre Bestandteile zu zerlegen, muss man viel Energie aufwenden“, erklärt Job Boekhoven, Professor für Supramolekulare Chemie an der TUM. Der Chemiker verfolgt daher einen anderen Weg – und orientiert sich dabei an biologischen Prozessen.
Unterschiedliches Energiemanagement
Die Natur produziert keine Müllberge. In biologischen Zellen werden die Moleküle ständig recycelt und zum Bau neuer verwendet. Einige dieser Moleküle bilden größere Strukturen, supramolekulare Einheiten, die als Struktur-Bausteine der Zellen dienen. „Diese Dynamik“, sagt Boekhoven, „hat uns dazu inspiriert, Materialien zu entwickeln, die sich selbst entsorgen, wenn sie nicht mehr benötigt werden.“
Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen vom Menschen hergestellten Stoffen und den meisten biologischen Materialien ist ihr Energiemanagement: Menschgemachte Stoffe befinden sich im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung – da kein Austausch von Molekülen oder Energie stattfindet, bleiben sie wie sie sind.
Die Natur arbeitet nach einem anderen Prinzip: Lebendige biologische Materialien – wie Haut und Knochen, aber auch einzelne Zellen – sind nicht im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Für Aufbau, Erhalt und Reparatur werden ständig Bausteine und Energie benötigt.
Fehlt Energie, stirbt der Organismus
„Diese wird beispielsweise durch Adenosintriphosphat, kurz ATP, zur Verfügung gestellt“, erläutert Boekhoven. „Solange genügend Energie zur Verfügung steht, werden defekte Bestandteile und ganze Zellen abgebaut und durch neue ersetzt, anderenfalls stirbt der Organismus und zerfällt in seine Grundbausteine.“
Die neuen Materialien, die Boekhoven mit einem interdisziplinären Team von Physikern, Chemikern und Ingenieuren an der TUM erforscht, orientieren sich an diesem natürlichen Vorbild: Die molekularen Bausteine sind zunächst frei beweglich. Gibt man jedoch Energie in Form hochenergetischer Moleküle zu, verbinden sie sich zu supramolekularen Strukturen.
Lebensdauer lässt sich bestimmen
Ist die Energie aufgebraucht, zerfallen sie von selbst. Die Lebensdauer kann dabei durch die zugegebene Menge an Energie vorherbestimmt werden. Im Labor lassen sich die Bedingungen so wählen, dass die Materialien von selbst nach einem bestimmten Zeitraum – Minuten oder Stunden – zerfallen. Am Ende ihres Lebenszyklus können die Bausteine weitergenutzt werden – indem man wieder hochenergetische Moleküle zugibt.
Die Wissenschaftler entwarfen verschiedene Anhydride, die sich zu Kolloiden, supramolekularen Hydrogelen oder Tinten zusammensetzen. Angetrieben durch Carbodiimid, das dabei als Brennstoff verbraucht wird, wandelt in diesen Materialien ein chemisches Reaktionsnetzwerk Dicarboxylate in metastabile Anhydride um. Wegen ihres metastabilen Charakters hydrolysieren diese mit Halbwertszeiten im Bereich von Sekunden bis zu einigen Minuten zu ihren ursprünglichen Dicarboxylaten.
Medikamente transportieren, Gewebe stabilisieren
Weil sich die Moleküle zu sehr unterschiedlichen Strukturen verbinden, ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten: Kugelige Kolloide beispielsweise lassen sich mit wasserunlöslichen Molekülen beladen – man könnte sie nutzen, um Medikamente gegen Krebs direkt zur Tumorzelle zu transportieren. Am Ende ihrer Mission würden sich die Kolloide selbstständig auflösen und die Medikamente lokal freisetzen.
Andere Bausteine bilden lange, faserige Strukturen, die Flüssigkeiten in Gele verwandeln. Diese eignen sich möglicherweise, um frisch transplantiertes Gewebe für eine definierte Zeit zu stabilisieren, bis der Körper ihre Funktion übernehmen kann. Und aus Molekülen, die sternförmige Anordnungen bilden, ließen sich Tinten mit exakt definierter Haltbarkeit herstellen.
Supramolekulare Handys noch Zukunftsmusik
Ob es gelingt, nach dem Vorbild der Natur eines Tages auch supramolekulare Maschinen oder Handys zu bauen, die verschwinden, wenn sie nicht mehr benötigt werden? Ausgeschlossen sei dies zwar nicht, meint Boekhoven, „aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Noch arbeiten wir an den Grundlagen.“
Gefördert wurden die Arbeiten mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des ATUMS Graduiertenprogramms (Alberta/TUM International Graduate School for Functional Hybrid Materials) und über den Exzellenzcluster Nanosystems Initiative Munich (NIM) sowie durch das TUM-Institute for Advanced Study mit Mitteln der DFG und der Europäischen Union.
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