Märkte im Wandel Wenn sich der Kundenmarkt verändert, ist Flexibilität gefragt
Sonne und Wind verdrängen Kohle und Gas. Verdrängen sie auch Großkraftwerke und Turbinen? Die Antwort der Hersteller: Turbinen sind keineswegs verzichtbar, sondern machen den weiteren Ausbau der Regenerativen erst möglich. Dafür müssen die Maschinen aber hochflexibel gebaut werden. Zwei europäische Forschungsprojekte loten derzeit aus, wie das gelingen kann.
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Klimaschonend und kohlenstoffarm, regenerativ und vernetzt – die EU-Energiepolitik hat ihre Leitmarken für die Energiesysteme der Zukunft eingerammt. Die „Energy Roadmap 2050“ der Europäischen Kommission geht davon aus, dass der Anteil an Ökostrom in der EU bis 2020 auf 35 %, bis 2050 auf mindestens 64 % klettern wird. In dieser Vision scheint wenig Platz für fossile Energieträger und die dazu gehörende Infrastruktur. „Wir müssen den Abschied von Kohle, Öl und Gas hinbekommen,“ fordert Bundesumweltministerin Svenja Schulze stellvertretend für viele Energie- und Klimapolitiker in Brüssel.
Wer braucht da künftig noch große, fossile Kraftwerke, die im Wesentlichen dafür gebaut sind, konstant und unerschütterlich die elektrische Grundlast sicherzustellen? Wer braucht noch Turbinen, die dann am wirtschaftlichsten und effizientesten arbeiten, wenn Leistung, Drehzahl und Durchfluss möglichst wenig verändert werden? Anders gesagt: Die Turbinenhersteller in Europa sind in Sorge, dass mit den politischen Vorgaben für emissionsarme und Erneuerbare-Energie-Gewinnung ihre Märkte vom Netz gehen.
Der Boom regenerativer Energieträger ist nicht das Ende der Branche in Europa, auch wenn es auf den ersten, flüchtigen Blick so aussieht. Davon ist Dr. Michael Ladwig, Präsident des Herstellerverbandes EU Turbines mit Sitz in Brüssel, überzeugt: „Thermische Kraftwerke werden weiterhin notwendig sein, um die Energieversorgung zu sichern.“ Dafür sprechen mehrere Gründe: Zum einen gehen Experten davon aus, dass kosteneffiziente und leistungsfähige Großspeicher für Strom und Wärme erst deutlich nach dem Jahr 2030 zur Verfügung stehen. Auch Smart Grids, die Stromerzeuger, Speicher und elektrische Verbraucher kommunikativ vernetzen und damit Angebot und Nachfrage intelligent ausbalancieren, sind in absehbarer Zeit nicht flächendeckend und zu tragbaren Kosten verfügbar.
Rettungsanker für eine Wetterabhängige Energie-Industrie
Selbst bei einem weiter steigenden Anteil fluktuierender Energiequellen werden thermische Kraftwerke nicht obsolet. „Sie bilden künftig das Rückgrat der Versorgung, wenn die Sonne nicht scheint und kein Wind weht“, sagt Dr. Alexander Wiedermann, Senior Manager in der Gasturbinenentwicklung bei MAN Energy Solutions in Oberhausen. Voraussetzung dafür sind allerdings flexible Turbinen – also Maschinen, die mit häufigen Lastwechseln zurechtkommen, die sich schnell hoch- und runterregeln lassen, denen Temperatur- und Strömungswechsel nicht an die Substanz gehen. „Es muss gelingen, neue und bestehende Kraftwerke so flexibel zu betreiben, dass sie die gleiche Verfügbarkeit und Standzeit haben wie herkömmliche Anlagen, die nur in Volllast laufen“, formuliert Wiedermann.
Das ist keine einfache Aufgabe. Turbomaschinen sind ausgesprochen komplex und müssen für jede einzelne Anwendung quasi maßgeschneidert werden. Daraus folgt, dass es den einen wirksamen Hebel nicht gibt, mit dem sich eine Turbine auf Flex-Betrieb umschalten lässt. Nur durch vielfältige Änderungen an ganz unterschiedlichen Bauteilen ergibt sich in der Summe eine Maschine, die für fluktuierende Energieeinspeisung geeignet ist. Je umfangreicher der Maßnahmenkatalog, desto größer der Flexibilitätsgewinn.
Starterhilfe leisten zwei Forschungsprojekte der EU mit den Namen Flexturbine und Turboreflex. In den beiden Projekten loten Hersteller, Universitäten und Forschungsinstitutionen bis zum Jahr 2020 gemeinsam aus, wie weit und auf welche Weise Gas- und Dampfturbinen so gebaut und optimiert werden können, dass sie leicht und vor allem schnell auf eine stark fluktuierende Stromeinspeisung durch Wind und Sonne reagieren – und das nach Möglichkeit so, dass gesundheitsschädliche Abgase und Kohlendioxidemissionen nicht erhöht werden und die Kosteneffizienz des Betriebs gewahrt bleibt. Insgesamt sind bei Flexturbine und Turboreflex 34 Partner aus zehn europäischen Ländern beteiligt, darunter die Turbinenhersteller GE, Siemens, Ansaldo, MAN und Doosan Skoda. Das Gesamtbudget liegt bei 18,8 Mio. Euro, davon sind 13,7 Mio. Fördermittel.
Technische Verbesserungen und neue Materialien stehen im Fokus
Im Zentrum stehen für Entwickler und Forscher drei Schwerpunkte: eine Optimierung von Dichtungen und Lagerung, flatterresistente Schaufeln und ein gutes Langzeit-Ermüdungsverhalten auch im Flex-Betrieb. Häufige Wechsel zwischen Volllast und Teillast sind insbesondere für Dampfturbinen eine schwere Bürde. Ändert sich die Last und damit die Drehzahl, durchläuft die Maschine wiederholt kritische Zustände, in denen die Wellen der Lager zu schwingen beginnen und das Material stark beansprucht wird. Um die Auswirkungen abzufedern, gibt es mehrere Ansatzpunkte. Beispielsweise kann eine veränderte Geometrie der verschiebbaren Lagerteile die Schwingungen dämpfen. Daneben sollen andere Materialien wie Hochleistungspolymere oder Polymerbeschichtungen die Strapazen für die Bauteile mindern. Auch verbesserte Lageröle mit stärker dämpfenden Eigenschaften helfen, Schäden vorzubeugen.
Ein Wechselbetrieb ist auch für die Dichtungen einer Turbine ein Problem. Ändern sich Lasten und damit die Temperaturen, dehnen sich Stator und Rotor unterschiedlich stark aus, was zu unerwünschtem Verschleiß führen kann. Alternativen sind selbstadaptive Systeme, deren Geometrie so ausgelegt ist, dass sie in jedem Betriebszustand nur minimale Spalte ausbilden. Daneben wurden Dichtungen aus sprödem Metall entwickelt, die sich bei Kontakt verformen und Reibungskräfte aufnehmen. Eine weitere Option ist eine gezielte Platzierung der Dichtungen an Positionen mit möglichst geringer Wärmeausdehnung.
Auch Turbinen werden dank Big Data effizienter
Die mit hoher Drehzahl rotierenden Turbinenschaufeln sind entscheidend für Effizienz und Standzeit der Maschinen – und auch sie vertragen eigentlich keine Lastwechsel. Im Flex-Betrieb ändern sich der Massenstrom und damit die aerodynamischen Lasten. In der Folge beginnen die Spitzen zu flattern, bringen das Laufrad aus dem Takt und zerstören im ungünstigsten Fall die Schaufel. Je länger die Blades, je größer also die Turbine, umso flatteranfälliger sind sie.
Hier setzen die Entwickler auf ein verändertes Design, das die Steifigkeit der Schaufeln verstärkt und ihre Stabilität auch im Flex-Betrieb erhöht. „Die Ergebnisse in der Simulation und auf dem Teststand sind vielversprechend“, sagt Wiedermann, „allerdings gibt es keine Geometrie, die für alle Turbinen passt.“ Die Blades müssen also je nach Turbinenart, Größe und Einsatzbereich immer wieder neu optimiert werden.
Dritte zentrale Frage ist das Langzeit-Ermüdungsverhalten der Maschine. Auch im Flex-Betrieb muss sichergestellt sein, dass die unterschiedlichen Spannungen, die Material und Bauteile stark belasten, unter Kontrolle bleiben. Nur dann hat die Turbine eine ausreichend hohe Standzeit und kann mit günstigen Betriebskosten gefahren werden. Konstrukteure und Materialwissenschaftler suchen daher nach Möglichkeiten, wie Spannungsspitzen bei häufigen Lastwechseln verhindert werden können, indem beispielsweise das Material verbessert und der Temperaturgradient möglichst klein gehalten wird.
Nicht nur technische Optimierungen machen Turbinen fit für den flexiblen Betrieb. In einer digitalen Welt gehen konstruktive Änderungen von Großmaschinen stets Hand in Hand mit Big Data. „Durch Big Data können Turbinen und Kraftwerke bis zu 20 % effizienter laufen“, schätzt Wiedermann. Nur die digitale Vernetzung aller Komponenten von Energiewandlungsanlagen erlaubt eine optimale Abstimmung und einen umweltschonenden, flexiblen Betrieb. Daher beschäftigen sich die Unternehmen und Forscher im Rahmen der EU-Projekte nicht nur mit optimal gedämpften Lagern, Schaufelkrümmung und Materialermüdung, sondern auch mit digitalen Tools und Systemen. Modernes Onlinemonitoring erlaubt es beispielsweise, den Betriebszustand von Turbinen bis auf Bauteilebene in Echtzeit zu analysieren und zu dokumentieren. Abweichungen sind sofort erkennbar und können frühzeitig gegengeregelt werden. Das verhindert Überlastung von Komponenten und Material, verringert Wartungs- und Reparaturkosten und maximiert Betriebs- und Standzeiten.
Die Rolle wird sich ändern, der Bedarf bleibt bestehen
Die Ziele der EU-Projekte sind anspruchsvoll: In der Summe sollen flexible und digitalisierte Turbinen aufgrund ihrer verbesserten Teillastfähigkeit die Zahl ihrer Heißstarts pro Jahr um ein Drittel senken. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Maschine hoch- und runterregeln lässt, soll sich verdoppeln. Die Betriebskosten könnten zugleich um bis zu 30 % sinken, unter anderem da die Maschine weite Strecken im brennstoffsparenden Teillastbetrieb läuft und deutlich weniger Wartungskosten verursacht. Die beteiligten Firmen gehen davon aus, dass rund 10 % der installierten fossilen Kraftwerkskapazität in der EU bis 2030 flexibilisiert werden können.
Voraussetzung dafür: „Wir müssen weg vom schlechten, fossilen Image“, sagt Ladwig von EU Turbines. Turbinen haben durchaus auch eine grüne Seite. Sie ermöglichen bereits heute hohe Wirkungsgrade in Kombikraftwerken und Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. In einer dekarbonisierten Energiewelt werden sie andere Aufgaben übernehmen, aber wesentlicher Bestandteil bleiben, betont der Herstellerverband. Die Zukunft für Gasturbinen liegt beispielsweise in der Nutzung von Biomethan und regenerativ hergestellten Energieträgern wie Wasserstoff. Dampfturbinen können Strom nicht nur aus Kohle erzeugen, sondern auch aus Biomasse. In solarthermischen Kraftwerken verwandeln sie Sonnenenergie in Elektrizität. Vor allem werden sie in Zukunft auch notwendig sein, um die Rückverstromung aus thermischen Speichern sicherzustellen. Der Verband hat ein weiteres Forschungsprojekt beantragt, das das Zusammenspiel von Großspeichern und thermischen Kraftwerken ausloten soll. Kleinere Aggregate sind nicht zuletzt ideal für die Nutzung von Restwärme in der Industrie – ein Bereich, der bislang weitgehend vernachlässigt wird.
In der öffentlichen und politischen Debatte um eine nachhaltige und klimaschonende Energieversorgung kommen Turbinen und thermische Kraftwerke trotzdem kaum vor. Dampfturbinen gelten als unlösbar verknüpft mit der Kohleverstromung. Gasturbinen sind wegen ihrer deutlich geringeren Masse zwar flexibler zu regeln, im Teilbetrieb aber oft unwirtschaftlich. Gaskraftwerke gelten daher als notwendiges Übel und Übergangstechnologie, bis Sonne, Wind & Co. das Zepter übernommen haben.
Die Branche weiß deshalb: Um sich ihre Märkte zu sichern, muss sie ihre Produkte auf zukunftsfähige, regenerative Energieträger umstellen und so weiterentwickeln, dass sie sich reibungslos in hybride Systeme aus regenerativer Erzeugung, großtechnischer Speicherung und dezentraler Rückverstromung einfügen. Das ist Gebot der Stunde und nicht zuletzt ein Plazet zur Standortsicherung. Denn die Konkurrenz schläft nicht: Der Wettbewerbsdruck durch asiatische Unternehmen ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Und auch bei Turbinenbauern außerhalb der EU sind Flexibilität und regenerative Brennstoffe ein zentrales Thema bei der Entwicklung neuer Maschinen.
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