Digital Twin Der digitale Zwilling im Brownfield-Einsatz

Ein Gastbeitrag von Alexander Makeyenkov, Maxim Ivannikov und Dr. Silvia Kienberger

Anbieter zum Thema

Der digitale Zwilling ist wie ein virtueller Spiegel, der reale Systeme oder Prozesse abbildet. Data Art zeigt, wie sich das Konzept entwickelt hat und welche Technologie dahinter steckt. Anhand von Beispielen wird deutlich, warum der digitale Zwilling so wichtig ist.

Das digitale Abbild eines physischen System: Der digitale Zwilling gewinnt stetig an Bedeutung und wird zunehmend in verschiedensten Industrien genutzt.
Das digitale Abbild eines physischen System: Der digitale Zwilling gewinnt stetig an Bedeutung und wird zunehmend in verschiedensten Industrien genutzt.
(Bild: Pexels / ThisIsEngineering)

David Gelernter, Informatiker und Professor an der Yale University, stellt sich die (nahe) Zukunft sehr digital vor: In seinem Buch „Mirror Worlds“ (Spiegelwelten) aus dem Jahr 1993 können wir eine ganze Stadt erkunden, während wir vor einem Computer sitzen. Er spekulierte, dass die physische Realität irgendwann nach und nach durch eine Software-Imitation ersetzt wird, in der wir alle „leben“ werden – die „Matrix“ lässt grüßen. Seine extravaganteren Spekulationen werden wahrscheinlich Science Fiction bleiben. Doch seine Idee der „Spiegelwelten“ wird in immer mehr Branchen durch das Konzept des „digitalen Zwillings“ umgesetzt.

Wie der Name schon sagt, ist ein digitaler Zwilling im Grunde eine virtuelle, dynamische Darstellung einer tatsächlichen Einheit, eines Prozesses oder eines Systems in der physischen Welt. Das Konzept wurde erstmals im Jahr 2002 auf einer Konferenz der Society of Manufacturing Engineers vorgestellt. In einer Präsentation der University of Michigan zum Thema Product Lifecycle Management (PLM) verwies eine von Professor Michael Grieves vorbereitete Folie auf das „Conceptual Ideal for PLM“, das als ein Auto im „Real Space“ und ein identisches Auto im „Virtual Space“ dargestellt wurde. Daten und Informationen flossen dabei im Laufe der Zeit zwischen den beiden Räumen. Das Konzept wurde als „Mirrored Spaces Model“ (Modell der gespiegelten Räume) formalisiert, das von der Existenz zweier Systeme ausging – dem physischen und einem virtuellen System –, die während der vier Lebenszyklusphasen Erstellung, Produktion, Betrieb und Entsorgung dynamisch miteinander verbunden sind. Das Modell wurde später erweitert, das virtuelle System dann als „digitaler Zwilling“ des physischen Systems bezeichnet.

Anwendung bestimmt Merkmale des digitalen Zwillings

Das Konzept des digitalen Zwillings hat seither immer mehr an Bedeutung gewonnen. Unterstützt durch die steigende Rechenleistung und das Aufkommen neuer Technologien in Bereichen wie Datenerfassung und KI-Analytik wurden Anwendungsfälle für digitale Zwillinge in unterschiedlichen Industrien und Branchen identifiziert. Die Merkmale und der Informationsbedarf eines bestimmten digitalen Zwillings hängen vom jeweiligen Anwendungsfall ab; die Anwendungen für digitale Zwillinge sind jedoch so zahlreich, dass sie den Rahmen dieses Artikels sprengen würden.

Ein anschauliches Beispiel für eine bestehende Anwendung sind allerdings die digitalen Zwillinge der Flugzeugtriebwerke von General Electric: Sie ermöglichen eine Echtzeitüberwachung der Leistung der einzelnen Triebwerke und die Vorhersage der erforderlichen Wartung. Professor Grieves sieht in „intelligenten“ digitalen Zwillingen, die selbst die Zukunft vorhersagen und Probleme beheben können, als die nächste Stufe in der Entwicklung des Konzepts.

Wir werden das Konzept auch auf Menschen anwenden. Das führende IT-Forschungs- und Beratungsunternehmen Gartner hat digitale Zwillinge von Menschen (z. B. Körperorgane) als einen der fünf aufkommenden Trends identifiziert, die die technologische Innovation im nächsten Jahrzehnt vorantreiben werden.

Infrastrukturen digital inspizieren

Data Art, ein weltweit tätiger Entwickler von Individualsoftware, hat eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Technologie des digitalen Zwillings für die Inspektion von Brücken, Tunneln und anderen kritischen öffentlichen Infrastrukturen nutzbar zu machen. Die Geschichte beginnt 2019 mit der Gründung des Kunden Strucinspect, einem Joint Venture zwischen dem Hersteller Palfinger, dem Ingenieurspezialisten VCE und der Angst Group, einem Experten für mobile Kartierung und Photogrammetrie. Die Gründer von Strucinspect erkannten, dass bei der Inspektion von Infrastrukturen durch den Einsatz neuer Technologien Verbesserungspotenzial besteht.

Mithilfe von Data Art begannen sie, die Technik für die „digitale Inspektion“ zu entwickeln, deren Kernstück die KI-gestützte Inspektion des digitalen Zwillings einer Infrastrukturanlage ist. Im Wesentlichen besteht die Technologie darin, eine Drohne so zu programmieren, dass sie um das Bauwerk herumfliegt und Bilder aufnimmt, die in die Strucinspect-Software eingespeist werden. Diese Software verarbeitet dann die Bilder und erstellt ein 3D-Zwillingsmodell, das digital inspiziert werden kann.

Bis heute wurde das KI-Modul von Strucinspect darauf trainiert, fünf verschiedene Arten von Schäden an Betonoberflächen zu erkennen, darunter feine Risse und Korrosion. Mit der Strucinspect-Plattform kann ein menschlicher Ingenieur das Bauwerk in einer Miniaturansicht begutachten und dann heranzoomen, um eventuelle Schäden aus der Nähe zu inspizieren, selbst wenn er aus der Ferne und unabhängig von Licht- oder Wetterverhältnissen arbeitet. Die Plattform ermöglicht es Inspektionsteams auch, festgestellte Schäden zu klassifizieren, zu protokollieren und zu filtern, während ein intuitives Dashboard es den Eigentümern und Betreibern von Infrastrukturanlagen ermöglicht, die Entwicklung der Schäden nach Art zu sehen und zu verfolgen.

Die Strucinspect-Plattform ist ein großen Fortschritt gegenüber dem traditionellen, manuellen Inspektionsprozess, der arbeitsintensiv, zeitaufwendig und teuer ist – ganz zu schweigen von den Störungen, die beispielsweise durch Brückensperrungen entstehen. Die Inspektion des digitalen Zwillings eines Bauwerks hat sich bereits als hocheffiziente Lösung für Kunden wie ÖBB Infra und die Autobahn Südbayern bei Projekten in Deutschland, Kroatien, Skandinavien und Österreich bewährt. Aber das ist noch lange nicht das Ende. Immer leistungsfähigere Funktionen werden kontinuierlich hinzugefügt. In Zukunft wird das System in der Lage sein, vorherzusagen, wann eine Wartung durchgeführt werden soll. Zudem wird es der Endnutzer selbst das KI-Modul der Software trainieren können, um weitere Arten von Defekten und Schäden zu erkennen.

Jetzt Newsletter abonnieren

Verpassen Sie nicht unsere besten Inhalte

Mit Klick auf „Newsletter abonnieren“ erkläre ich mich mit der Verarbeitung und Nutzung meiner Daten gemäß Einwilligungserklärung (bitte aufklappen für Details) einverstanden und akzeptiere die Nutzungsbedingungen. Weitere Informationen finde ich in unserer Datenschutzerklärung.

Aufklappen für Details zu Ihrer Einwilligung

Konzept des digitalen Zwillings anwenden

Das Konzept des digitalen Zwillings kann auf fast jede vertikale Branche angewendet werden. Es kann beispielsweise mit fortschrittlichen Lagerverwaltungssystemen (LVS) beginnen und mit der Modellierung komplizierter Prozesse des Abfallmanagements für Asphaltproduktionsanlagen enden. Die Bandbreite ist enorm, aber es gibt einen Rahmen, der es ermöglicht, die Aufgabe zu formalisieren.

Teilen wir unser theoretisches Projekt des digitalen Zwillings in 5 Ebenen auf:

  • 1. IoT-Ebene: Sensoren, Geräte und Gateways, die es uns ermöglichen, Daten von unseren Anlagen zu sammeln.
  • 2. Konnektivitätsebene: sicheres, skalierbares und zuverlässiges Netzwerk für den Datenaustausch.
  • 3. Datenebene: alle Informationen, die wir von unseren physischen Objekten oder Prozessen erhalten, sollten ordnungsgemäß normalisiert, gespeichert und für die Verwendung vorbereitet werden.
  • 4. Ebene der Analyse und Entscheidungsfindung zum Implementieren der eigentlichen Geschäftslogik. Sie kann auch alle Arten von Simulationsroutinen enthalten.
  • 5. Feedback-Ebene, um die Objekte und Prozesse zu beeinflussen, sobald die Entscheidung getroffen wurde.

Es ist klar, dass Innovationen ein klares Geschäftsziel benötigen. Es bedarf also eines guten wirtschaftlichen Grunds, etwas zu implementieren – Beispiel: Projekte zur vorausschauenden Wartung. Nach den Erfahrungen von Data Art bringen solche Projekte immer einen höheren Wert als erwartet. Ein Blick in die Historie zeigt, dass 90 Prozent der Projekte zur vorausschauenden Wartung so viel Geld einsparen, dass sie sich bereits nach einem Jahr amortisiert haben. Mit dem richtigen Lösungsansatz und einer detaillierten Roadmap kann es sogar noch schneller gehen.

Den digitalen Wandel vorbereiten

In der Fertigung gibt es immer zeitkritische Prozesse. Und es besteht kontinuierlich das Risiko von Ausfällen. Wie lassen sich diese Risiken mindern? Vorbeugende Wartung, ein Team von Ingenieuren und ein Vorrat an Ersatzteilen sind vielleicht die Antwort. Aber auf lange Sicht werden all diese Betriebsausgaben zu einer nicht skalierbaren und kaum zu bewältigenden Belastung.

Nur wenige können sich den Ansatz der Greenfield-Innovation erlauben. Aber in den meisten Fällen verlangt die Realität, den Brownfield-Ansatz zu wählen. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Reihe von Geräten in Anlagen im ganzen Land oder sogar auf der ganzen Welt. Sie funktionieren perfekt, erfüllen Ihre Geschäftsziele, aber es fehlt Ihnen ein moderner IoT-Stack, um Ihr Unternehmen auf den digitalen Wandel vorzubereiten. Doch wo soll die Reise beginnen?

Die Bedeutung der Lösungsdesignphase kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ermöglicht es, einen Fahrplan zu erstellen und mögliche Risiken zu minimieren. In dieser Phase ist es von wichtig, die Anforderungen zu analysieren und den aktuellen Zustand zu untersuchen. Die folgenden Phasen können bei entsprechender Planung parallel ablaufen.

Die Daten analysieren und nützlich machen

Ein praktisches Beispiel: Auf der Grundlage des oben beschriebenen Rahmens beginnt man mit der IoT-Ebene. Der erste Schritt besteht also darin zu verstehen, wie man Daten sammelt. Unser theoretisches Projekt zur vorausschauendes Wartung mit einem Brownfield-Ansatz sollte mit der Analyse aller abbaubaren Teile und Geräte beginnen, die in der Lage sind, deren Leistung zu messen.

Der Aufbau einer Konnektivitätsebene kann in einigen Konstellationen schwierig sein, ebenso wie die Erstellung der Datenebene. Im Allgemeinen sind dies aber nicht die schwierigsten Aufgaben, da die Technologie standardisiert ist. Es muss lediglich die Anforderungen analysiert und die richtige Wahl getroffen werden.

Der schwierige Teil beginnt mit der Datenanalyse, denn es wird eine Vielzahl von Informationen gesammelt. Wie lässt sich herausfinden, was die Leistung der Geräte wirklich beeinflusst? Was ist, wenn die meisten dieser Informationen nur ein Grundrauschen sind? Was ist, wenn Sie damit keine Vorhersagen über die Auswirkungen auf Ihren Betrieb machen können? Die Aufgabe eines Data-Science-Teams besteht letztendlich darin, zu beweisen, dass die Daten des digitalen Zwillings nützlich sind und den Zustand des Systems genau wiedergeben. Dies kann zeitaufwendig sein, ist aber einer der wichtigsten Schritte. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Data-Science-Teams werden zukünftige Modelle für die vorausschauende Wartung erstellt.

Mit KI und Machine Learning Prozesse automatisieren

Es ist schwer vorstellbar, dass ein Projekt zum digitalen Zwilling ohne künstliche Intelligenz (KI) oder Machine Learning (ML) auskommt. Die Data-Science-Phase ist auch dafür entscheidend. Sobald die Datenmodelle vorbereitet sind, werden KI-/ML-Algorithmen darauf trainiert.

In unserem Fall der vorausschauenden Wartung kann man KI einzusetzen, um den Überwachungsprozess zu automatisieren. In der Regel implementiert Data Art mehrere KI-/ML-Algorithmen, um den Kunden einen 360-Grad-Blick auf die Leistung ihrer Anlagen zu ermöglichen. Die Implementierung von KI oder ML ist ein iterativer Prozess. Je mehr Daten gesammelt werden, desto präziser werden die Algorithmen. Manchmal müssen Sie zurückgehen und andere Modelle und Ansätze ausprobieren. Aber am Ende wird es immer besser.

Digitale Zwillinge hören nicht auf, sich weiterzuentwickeln, sobald die Funktion zur vorausschauenden Wartung eingerichtet ist. Das System sollte in die bestehende Infrastruktur integriert werden, die Prozesse automatisiert und die historischen Berichte erstellt werden, um zukünftige Innovationen zu ermöglichen.

Das unausgeschöpfte Potenzial für digitale Zwillinge ist immens und schwer zu ergründen. Selbst wenn wir am Ende nicht in den „Spiegelwelten“ von Gelernters Spekulationen leben, kann man mit Sicherheit sagen, dass digitale Zwillinge sich mehr und mehr durchsetzen und in zahlreichen Branchen eine immer wichtigere und disruptivere Rolle spielen werden.

* Alexander Makeyenkov ist Geschäftsführer, Maxim Ivannikov ist Lösungsberater und Industrie-4.0-Experte, Dr. Silvia Kienberger ist Senior Vice President Strategic Business & Technologies Europe bei DataArt

(ID:48185695)