Industrie 4.0 Wie die deutsche Industrie durch Smart Production zur Pole-Position zurückkehrt

Ein Gastbeitrag von Heiko Löffler & Torben Grosche*

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Die digitale Transformation der Industrie ist ein Punkt, an dem sich die Zukunft des Wirtschaftsstandort Deutschlands mitentscheiden wird. Viele Unternehmen sehen die Chancen des Industrial IoT und verwandter Technik auch bereits, fragen sich aber, wie sie beginnen sollen.

Die technischen Möglichkeiten der Industrie 4.0 erscheinen mitunter zwar bunt und vielfältig, können ob ihrer Fülle aber auch einschüchtern. Dabei kann man sich dem Zielbild einer Smart Production auch schrittweise nähern.
Die technischen Möglichkeiten der Industrie 4.0 erscheinen mitunter zwar bunt und vielfältig, können ob ihrer Fülle aber auch einschüchtern. Dabei kann man sich dem Zielbild einer Smart Production auch schrittweise nähern.
(Bild: Heiko Löffler)

Industrie 4.0, IIoT, Digital Industry – es gibt viele Begriffe für ein übergeordnetes Thema: die Digitalisierung der Industrie. Diese ist kaum mehr wegzudenken und schon lang kein neues Thema mehr. Nach einer Studie von Microsoft haben bereits 69 Prozent der befragten europäischen Industrieunternehmen eine Smart Factory Strategie definiert (Microsoft, Intel, & Analytics, 2022). Damit liegen wir jedoch immer noch hinter Nord Amerika.

Wie schafft man es als Industrieunternehmen, hier einen Schritt weiterzukommen? Was genau bedeutet die Digitalisierung für Industrieunternehmen und wie geht man sie an? Antworten hierauf geben wir in diesem Artikel.

Digitalisierte Produktion für niedrigere Kosten und höhere Wettbewerbsfähigkeit

Warum sollten sich Unternehmen mit dem Thema und einer systematischen Umsetzung auseinandersetzen? Die simple Antwort: Erhöhte Wirtschaftlichkeit der Fertigung, das heißt die Maximierung der Ressourceneffektivität und Prozesseffizienz. Grundlage ist die erhöhte Transparenz, die Optimierung und Automatisierung durch die Vernetzung. Ein beispielhaftes Ziel kann sein: Erhöhung der Produktivität von 2.000 gefertigten Maschinen auf mind. 3.000 in den nächsten 2 Jahren bei gleichbleibendem Mitarbeiter- und Anlageneinsatz.

Allein die Verbesserung der OEE stufen 86 Prozent der Industrieunternehmen als wichtig ein und identifizieren es als das übergreifende Ziel im Rahmen der Smart-Factory-Strategie. Die dazugehörige angestrebte durchschnittliche Verbesserung beläuft sich auf 28 Prozent in den kommenden drei Jahren (Microsoft, Intel, & Analytics, 2022). Hinzukommt: Für 94 Prozent der Industrieunternehmen ist die Digitalisierung Voraussetzung für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie (Bitkom Research "Industrie 4.0 – so digital sind Deutschlands Fabriken" 2020).

Gemeinsames Zielbild weist die Richtung

Möchte man als Unternehmen den Weg in Richtung Digitalisierung beschreiten, sollte man zuerst das Zielbild festlegen. Hat man das getan, gilt es den Zielzustand Schritt für Schritt umzusetzen. Das Titelbild dieses Beitrags stellt unsere Sicht auf die Smart Production auch noch mal grafisch dar.

Die hierbei wichtigsten Elemente sind:

  • Horizontale & Vertikale Vernetzung: Der durchgängige Informationsfluss über den gesamten Wertstrom vom Lieferanten bis zum Warenausgang sowie über alle Ebenen vom Sensor, über die Cloud bis zum Nutzer – wir sprechen also vom IoT Ökosystem.
  • Modulare Systemstrukturen: Nutzung von Standards (zum Beispiel REST API, OPC UA) und Standardkomponenten zur Sicherung einer schnellen Konfiguration und Flexibilität.
  • Richtige Datengrundlage: Die richtigen Daten in der richtigen Qualität sicherstellen –Data-as-a-Product lautet hier das Stichwort.
  • Ganzheitliche Transformation: Organisation und Mitarbeiter gesamtheitlich einbinden und neue Kompetenzen, bedarfsgerecht intern aufbauen und extern hinzuziehen.

Umfassende Transformation angehen

(Bild: MM 1)

Es zeigt sich: Das Zielbild benötigt einen hohen Reifegrad auf geschäftlicher, organisatorischer und technologischer Ebene. Das bringt eine Vielzahl an Herausforderungen mit sich, die man in sinnvollen Schritten iterativ angehen muss. Um sich davon auf der Reise jedoch nicht überraschen zu lassen oder gar zu scheitern, hilft es, diese Herausforderungen im Vorfeld zu kennen.

Die Ableitung: Die Umsetzung einer Smart Production ist kein einmaliges Technologie-Projekt. Es ist vielmehr ein umfangreiches Transformationsvorhaben.

Ermittlung erster Use Cases und zeitgleiche Ausgestaltung des IoT Ökosystems

Häufig werden Implementierungsprojekte von IoT-Projekten entweder nur vom Use-Case oder nur von der technischen Perspektive betrachtet. Eine einseitige Betrachtung führt dazu, dass eine IoT-Plattform an den Anforderungen der Nutzer und entsprechenden Anwendungsfällen vorbei entwickelt wird, oder Use Cases aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten nicht realisiert werden können. Die Praxis erfolgreicher Transformationen zeigt: Wichtig ist es immer, zunächst einen klaren Mehrwert des Vorhabens im Fokus zu haben. Das kann zum Beispiel die Erhöhung der Produktivität um zehn Prozent in einem Jahr sein. Darauf aufbauend gilt es parallel in beide Richtungen vorzustoßen, um stufenweise vom ersten umgesetzten Use Case zur ganzheitlichen Smart Production zu gelangen.

Bewährte Innovationsmethodik zur Identifikation von Use Cases

(Bild: MM 1)

Wo fängt man nun an? Das Spektrum ist riesig. Daher lohnt es sich, bewährte Innovationsmethodik zu nutzen, um mit den richtigen Dingen zu starten. Ein in der Praxis bewährtes Vorgehensmodell ist der ‚Double Diamond‘ aus dem Design Thinking. Dieses Modell sieht vier aufeinander aufbauende Schritte vor, um erste vielversprechende Use Cases zu bestimmen:

  • 1. Identifikation: Im Rahmen von Workshops identifiziert man mögliche Anwendungsfälle anhand konkreter Schmerzpunkte und Potenziale der unterschiedlichsten Stakeholder.
  • 2. Bewertung: Diese stellt man mithilfe definierter Bewertungskriterien, entlang der Dimensionen Aufwand und Nutzen, gegenüber. Außerdem bestimmt man die priorisierten Anwendungsfälle im Einklang mit den strategischen Zielen.
  • 3. Lösungsszenarien: Für die vielversprechendsten Use Cases erarbeitet man mögliche Lösungs-Szenarien. Dazu gehören Fragen wir welche Messmethode oder Funktechnologie soll verwendet werden.
  • 4. Lösungsdetaillierung: Die Vorzugs-Alternative gilt es abschließend zu detaillieren und im Anschluss in die Umsetzung zu überführen

Ein praktisches Industrie-Beispiel:

Bei einem Maschinenhersteller werden täglich auf einer Maschine alle zugrundeliegenden Stahl-Bauteile oberflächentechnisch bearbeitet. Zum Einsatz kommt eine werksweit einmalige Sandstrahlanlage, die in unregelmäßigen Abständen durch die Verschmutzung einer Förderschnecke ausfällt. Das Resultat: Der gesamte Prozess steht für mehrere Stunden still. Durch eine simple Überwachung der Belastung des Antriebsmotors, über den Stromverlauf, kann man hier vorbeugend eine Überlast erkennen und eine geplante Reinigung einsteuern – ohne langen und kostenintensiven Stillstand.

Die Meldung erfolgt automatisiert. Der Status der Maschine kann zudem im Zuge dessen ortunabhängig mit eingesehen werden. Ein erster Schritt also in Richtung Smart Production und ein Anwendungsfall, dessen Nutzen alle direkt verstehen und sehen.

Modularität wichtig für IoT-Ökosystem

Für die Gestaltung eines technischen Ökosystems gibt es leider kaum allgemeingültige Ansätze. Ein wesentlicher Grund ist die unterschiedliche Ausgangslage, da in Europa die meisten Fabriken häufig dem Brownfield statt dem Greenfield zugeordnet werden. Brownfield beschreibt in diesem Kontext eine bereits existierende Produktion, die schon seit einiger Zeit in Betrieb ist, während Greenfield eine Produktion-Neuplanung, sprichwörtlich ‚auf der grünen Wiese‘, meint.

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Dieser Umstand zeigt sich unter anderem in einem heterogenen Maschinenpark. Dieser weist somit Maschinen unterschiedlicher Hersteller und Generationen auf. Auch findet sich unterschiedliche IT-Ausstattung, wie isolierte Systeme für ERP, QM oder MES innerhalb des Werks. Weiterhin spielen äußere Rahmenbedingungen mit rein, zum Beispiel eine unzureichende Bandbreite der Internetverbindung. Diese erwähnten Herausforderungen machen eine individuelle Betrachtung für die Ausgestaltung des IoT-Ökosystems notwendig.

Was sich allerdings für jede IoT-Implementierung anbietet und dementsprechend auch berücksichtigt werden sollte, ist eine Modularisierung des Ökosystems, welche in den folgenden Absätzen tiefergehend beschrieben wird.

Datenstrom als strukturierendes Element für die Modularisierung

(Bild: MM 1)

Als strukturierendes Element für die Modularisierung des technischen Ökosystems dient der Datenstrom. So werden im ersten Schritt die Daten generiert. Dies kann beispielsweise über Smart Sensors oder aber auch über die OT-Steuerung der Maschine realisiert werden – hier beginnt dann auch das wichtige Thema der IoT-Security.

Anschließend müssen die Daten übertragen werden – zum Beispiel über Wi-Fi, Produktionsnetzwerke oder spezielle Funkstandards wie NB-IoT. Über ein Gateway können die Daten in eine Bearbeitung und Speicherung eingespeist werden. Dies und die anschließende Nutzung der Daten passiert häufig in den bekannten IoT-Cloudplattformen.

Um die Modularität im Sinne von frei wählbaren Komponenten bei jedem Block des Datenstroms zu gewährleisten, müssen Verantwortliche auf eine einheitliche Definition der Schnittstellen und Datenformate achten. Das ermöglicht je nach Use-Case eine optimale technische Ausgestaltung der Anforderungen durch verschiedene, modular-konfigurierbaren Alternativen.

Kontinuierliche Erweiterung des IoT-Ökosystems in Releases

(Bild: MM 1)

Die zuvor beschriebene Modularität ermöglicht einerseits eine schnelle Implementierung der ersten Use-Cases in Form eines Proof of Concepts und andererseits eine kontinuierliche Erweiterung des Ökosystems. Ein einfacher Use Case ist zum Beispiel die schon erwähnte Motorstromüberwachung mit einer einfachen Basisarchitektur, ohne Schnittstellen zu anderen IT-Systemen oder Möglichkeiten tiefergehender Analyseverfahren. Die kontinuierliche Erweiterung kann durch die Bildung von aufeinander aufbauenden Releases erreicht werden, welche vereinfacht in der folgenden Abbildung dargestellt sind. Von einem PoC ausgehend kann man weitere Use Cases integrieren, welche sich in Releases zu einem umfangreichen Ökosystem ergänzen. Dieses Ökosystem entspricht Version 1.0 und wird durch die Einbindung neuer Technologien, Use Cases, Maschinen und Werke kontinuierlich erweitert beziehungsweise verbessert.

Von Beginn an berücksichtigen: IoT-Security und Data Governance

Nicht erst seit den aktuellen Weltkonflikten werden Hacker-Angriffe auf IT-Infrastrukturen immer bekannter. Diese können beispielsweise ganze Fabriken zeitweise stilllegen. Aus diesem Grund gilt es, IoT-Security frühzeitig mitzudenken und durch Security-by-Design in den Entwicklungsprozess des Ökosystems zu integrieren. Neben der Security sollte auch die Data Governance bereits von Beginn an mitgedacht werden und ganzheitlich im Unternehmenskontext behandelt werden. Das reduziert hohe Aufwände in nachträglichen Korrekturen oder Fehlerbehebungen. So kann bereits ein anderes Datumsformat zu enormen zusätzlichen Aufwänden in Form von Datenbereinigungen oder sogar zu nicht funktionierenden Prozessen führen.

Nutzen frühzeitig aufzeigen, langfristig erfolgreich sein

Die Methodik und ein gutes Vorgehen allein führt aber noch nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Wichtig ist es, sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Unternehmensebenen einzubinden und durch schnelle Umsetzung erster Proof of Concepts und Piloten unmittelbar Ergebnisse und deren Mehrwert zu zeigen.

Ein geeigneter Ansatz: standort- und hierarchieübergreifende Communities aufbauen und die Belegschaft schulen. Hierdurch weckt man Begeisterung für das Thema und sensibilisiert die Organisation für das Sehen-lernen im IoT-Kontext (vgl. Mike Rother Standardwerk im Leanproduction-Bereich). Das ist die Basis für eine erfolgreiche Skalierung vom PoC zur umfassenden Smart Production – vorangetrieben durch eine motivierte und aktive Belegschaft.

Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur Smart Production

(Bild: MM 1)

Zusammenfassend haben wir gezeigt, warum sich deutsche Industrieunternehmen mit der Digitalisierung ihrer Produktion befassen sollten und wie sie es konkret angehen können. Der wichtige Punkt: Es ist kein alleinstehendes Technologie-Thema, sondern eine Transformation, bei welcher es erfolgsentscheidend ist, die Menschen mit zu berücksichtigen und mitzunehmen. Und hierbei gilt, wie schon ein grundlegendes Prinzip aus dem japanischen Lean Management lehrt: „Genchi Genbutsu“ – gehe an den Ort des Geschehens.

Quellen

IoT Signals, Microsoft; Intel; Analytics, IoT, 2022: https://info.microsoft.com/ww-landing-IoT-signals-manufacturing-spotlight.html?lcid=en-us (registrierungspflichtig)

Industrie 4.0 – so digital sind Deutschlands Fabriken; Achim Berg; Bitkom, 2020: https://www.bitkom-research.de/system/files/document/200519_BitkomPr%C3%A4sentation_Industrie40_2020_final.pdf

* Heiko Löffler ist Senior Consultant bei MM 1 im Bereich der Digitalen Transformation, insbesondere im Industrieumfeld. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Digital Industry, mit Fokus auf die Produktentwicklung (Smart Connected Products) sowie die Smart Factory.

* Torben Grosche ist Consultant für Digitalisierungsprojekte im Maschinen- und Anlagenbau. Seit seiner Zeit bei MM 1 begleitet er diverse Projekte im Bereich Konzeption, Entwicklung und Rollout von IoT-Lösungen in verschiedenen Branchen.

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