Kommentar Demographisches Defizit: Länger arbeiten oder mehr Roboter?

Von Henk Grootveld *

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Die Erwerbsquoten sinken, da immer mehr Menschen früher aufhören zu arbeiten. Kann die Automatisierung die dadurch aufkommenden Probleme lösen? Oder sollte das Renteneintrittsalter einfach erhöht werden?

Um der wachsenden Nachfrage im Freizeit- und Gesundheitsbereich gerecht zu werden, sollten immer mehr digitale Innovationen eingesetzt werden. Roboter könnten uns so ein früheres Renteneintrittsalter ermöglichen.
Um der wachsenden Nachfrage im Freizeit- und Gesundheitsbereich gerecht zu werden, sollten immer mehr digitale Innovationen eingesetzt werden. Roboter könnten uns so ein früheres Renteneintrittsalter ermöglichen.
(Bild: Gemeinfrei // Pexels)

Seit wir uns zurückerinnern können, kurbelt die wachsende Zahl der Arbeitskräfte die Weltwirtschaft an. Diese demografische Dividende, zunächst durch den Babyboom der Nachkriegszeit angetrieben, schuf ein ideales Umfeld für die Rentabilität der Unternehmen und den Anstieg der Aktienkurse. Sie war eines der vier Phänomene der vergangenen 40 Jahre, welche die Kapitalkosten ungewöhnlich niedrig hielten. Diese werden sich nun aber unserer Meinung nach umkehren. Wir erleben den Übergang von einer wachsenden, jugendlichen Gesellschaft zu einer schrumpfenden, alternden Gesellschaft. Damit wird ein neues demografisches Defizit geschaffen, das zu höherer Inflation und höheren Kapitalkosten führen wird.

Die größten Volkswirtschaften der Welt, Nordamerika, Europa, Japan und China, werden nicht mehr von einem stetigen Wachstum der Erwerbsbevölkerung profitieren. Stattdessen werden ihre Arbeitskräftepools in den kommenden Jahrzehnten in ein demografisches Defizit um bis zu 1 % jährlich schrumpfen. Ist dieses Defizit vermeidbar? Eine mögliche Lösung besteht darin, die Erwerbsbeteiligung allerzu erhöhen.

Rückläufige Erwerbsquote der Frauen

Heute liegt die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Europa bei etwa 50 % und in den USA bei 55 %. Im Vergleich beträgt sie bei Männern in Europa 65 % und in den USA 70 %. Um den geschätzten jährlichen Rückgang der Erwerbsbevölkerung um etwa 1 % auszugleichen, muss die Erwerbsquote der Frauen jährlich um 2 Prozentpunkte steigen, um bis 2030 mit jener der Männer gleichzuziehen. Von da an sollte die kombinierte Erwerbsquote beider Geschlechter auf fast 80 % steigen. In der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Erwerbsquote der Männer noch bei über 80 %. Doch der aktuelle Trend, den einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bereits als «Great Resignation», die grosse Kündigungswelle, bezeichnen, steht dem entgegen. Der Begriff beschreibt die ungewöhnlich hohe Zahl von Arbeitnehmern und -nehmerinnen, die seit 2021 freiwillig kündigen. Erstmals wurde die Bezeichnung „Great Resignation“ 2021 von Prof. Klotz in einem Artikel in der Washington Post verwendet. Wenngleich das Phänomen zuerst in den USA auftrat, ist es auch in anderen Regionen zu beobachten.

Arbeiten, um zu leben

Eine aktuelle Studie von Morgan Stanley stellte bereits eine ähnliche Entwicklung in Europa fest. Sie ergab, dass jeder dritte Europäer ein Nebeneinkommen aus webbasierten Aktivitäten erzielt und deshalb plant, seinen Arbeitsplatz aufzugeben.1

In China wird dieses Phänomen als "tang ping" bezeichnet, was so viel wie flach liegend bedeutet. Es wird eher als eine Art Lebensstil und soziale Protestbewegung unter jungen Menschen angesehen. Diese lehnen den gesellschaftlichen Druck ab, an sechs Tagen der Woche jeweils neun Stunden zu arbeiten, wie es in China üblich ist. Diejenigen, die tang ping praktizieren, verfolgen geringere berufliche Ambitionen und einfachere Lebensziele: Sie arbeiten, um zu leben, anstatt zu leben, um zu arbeiten. Dies unterscheidet sie von den Hikikomori in Japan, die sich völlig aus dem Arbeitsleben und aus der Gesellschaft zurückziehen. In China ist somit die allgemeine Erwerbsquote bereits von 71 % im Jahr 2010 auf 67 % im Jahr 2020 gesunken.

Lösung 1: das Renteneintrittsalter aufschieben

Eine höhere Erwerbsquote von Menschen ab 65 Jahren könnte theoretisch sowohl den Rückgang der Erwerbsbevölkerung als auch die Zahl der abhängigen Rentner verringern. Das Renteneintrittsalter von 65 Jahren ist seit mehr als einem Jahrhundert in Stein gemeisselt, während sich unsere Lebenserwartung mehr als verdoppelt hat. Den demografischen Statistiken der Vereinten Nationen und unseren Berechnungen zufolge steigt mit jedem Jahr, um welches das offizielle Rentenalter angehoben wird, die Verfügbarkeit von Arbeitskräften um 2 %. Angesichts der vor uns liegenden geschätzten rückgehenden, jährlichen Erwerbsbevölkerung müsste das Renteneintrittsalter um vier bis sechs Monate verschoben werden. Zu beachten ist jedoch, dass dieser Aufschub jedes Jahr erfolgen müsste, um die Lebensarbeitszeit kumulativ verlängern zu können. Die Folge wäre, dass 2040 75-Jährige und 2050 erst 80-Jährige Anspruch auf eine Rente hätten. Es mag sein, dass ein US-Präsident in diesem Alter noch arbeitet, aber Politiker und Politikerinnen, die vorschlagen, das Rentenalter in diesem Tempo zu erhöhen, wären wahrscheinlich nicht mehr lange im Amt.

Die Zahl der Erwerbstätigen auf diese Weise zu erhöhen, erscheint vielleicht wie eine praktikable Lösung. Doch könnte sich die Idee als politisch unrealistisch erweisen und würde sicherlich dem jüngsten Kündigungstrend zuwiderlaufen.

Lösung 2: Mehr Roboter und Automatisierung

Roboter und Automatisierung ließen bereits in den letzten Jahrzehnten die Produktivität wachsen. Dabei ergänzen sie vor allem die industrielle Arbeit, wo menschliche Tätigkeiten teilweise überflüssig wurden. Dadurch verlagerten sich einige Arbeitsplätze aus dem verarbeitenden Gewerbe in den Dienstleistungssektor.

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Natürlich können mehr KI-Tools und Roboter eingesetzt werden, vor allem in der verarbeitenden Industrie. Aber genau hier liegt das Problem: Eine alternde Gesellschaft wird von Robotern hergestellte Familienautos und mit KI-gesteuerten Nähmaschinen produzierte Kinderkleidung weniger stark nachfragen. Dagegen wird diese Generation ein steigendes Maß an die Demenzpflege und Freizeitgestaltung benötigen. Das sind genau jene Jobs, an denen die Automatisierung bisher vorbeigegangen ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Association of American Medical Colleges geht davon aus, dass in den USA bis 2032 insgesamt 120 000 Ärzte und Pflegekräfte fehlen werden.

Automatisierung gezielt einsetzen

Leider gibt es heute noch keine Pflegeroboter, und auch in naher Zukunft sind diese eher unwahrscheinlich. Der Gesundheitssektor setzt die Automatisierung bereits ein: KI unterstützt einige radiologische Geräte, Roboter führen wenige chirurgische Eingriffen durch und die erste vollautomatische Apotheke wird gerade getestet.

Die konservative Gesundheitsbranche muss roboter- und automatisierungsaffin werden, um die wachsende Zahl älterer Menschen und Patienten mit chronischen Krankheiten besser betreuen zu können. Dasselbe gilt für den Freizeitsektor. Zwar gibt es immer mehr digitale Reiseleiter, aber im Restaurant werden wir bisher noch nicht von Robotern bedient.

Die Automatisierung hat ein enormes Potenzial, dem Problem der geringeren erwerbstätigen und zunehmend alternden Gesellschaft entgegenzuwirken. Wir brauchen aber eindeutig mehr digitale Innovationen, um der wachsenden Nachfrage im Freizeit- und Gesundheitsbereich gerecht zu werden.

*Henk Grootveld ist Head of Trends Investing bei Lombard Odier Investment Managers.

1 „What if the great resignation does not end?“ von Stanley, Bhardwaj, Agrawal, Skarica & Pietrunti, 2021.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partnerportal Industry of Things erschienen.

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