Stahlbleche Neckarbrücke mit Längsprofilblechen in Form gebracht
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Die neue Neckarbrücke ist Entrée von Stuttgart und ingenieurtechnische Pionierleistung zugleich. Diesen Status verdankt die viergleisige Eisenbahnbrücke über den Neckar ihrer Gestaltung als Stahlsegelbrücke mit fast 80 Metern Spannweite. Für ihre „Segel“ kamen dicke Stahlbleche zum Einsatz.

Der Entwurf der Neckarbrücke stammt von dem renommierten Ingenieurbüro Schlaich Bergermann Partner (SBP) aus Stuttgart, das bereits fünf Mal den Deutschen Brückenbaupreis gewinnen konnte. Als Teil des Infrastrukturprojektes Stuttgart 21, in dessen Rahmen auch der Stuttgarter Hauptbahnhof neu gebaut und der Eisenbahnknoten Stuttgart neu geordnet wurde, ist die Brücke Teil der Magistrale Paris-München-Budapest. Ihr Standort ergibt sich aus der fortan zu einem Großteil unterirdisch verlaufenden Neuplanung der bestehenden Streckenführung der Bahn am Neckar als neuralgischem Punkt. Durch den Umbau des vorhandenen Kopfbahnhofs zu einem tief liegenden Durchgangsbahnhof erhielt die Gleistrasse eine neue, um 90° gedrehte Orientierung. Das bedingte den Ersatz der Bestandsbrücke durch einen Neubau für den S- und Fernbahnverkehr.
345 Meter lang und 25 Meter breit, hat die neue viergleisige Eisenbahnbrücke über dem Neckar Spannweiten von 77 beziehungsweise 74 Meter. An ihrer höchsten Stelle erhebt sie sich 15 Meter über dem Normalwasserspiegel des Flusses. Auf seiner Westseite ist der Brückenüberbau zweigeteilt und mündet dort in zwei getrennte Tunnel: Für die S-Bahn führen die Gleise zum neuen, unterirdischen Bahnhof, die Fernbahn gelangt durch den zweiten Tunnel zum Bahnhofneubau.
Stahlverbundkonstruktion mit Stahlsegel
Die neue Neckarbrücke besteht aus einem siebenfeldrigen Durchlaufträger. Markante Stahlsegel kennzeichnen die zwei Hauptfelder über dem Fluss. Beide Felder sind über die Stahlsegel und Zügelgurte an insgesamt neun Stahlmasten aufgehängt. Für die Stahlverbundkonstruktion entwickelte SBP ein Längstragwerk aus drei Hohlkasten-Stahlträgern. Dieses ist auf drei Hauptpfeilerreihen in Längsrichtung an den Außenseiten und in der Mitte des Überbaus unverschieblich gelagert und wird durch die Stahlsegel gestützt. Auf diese Weise tragen die neun schlanken Stützen die enormen horizontalen Bremskräfte ab, die auf der viergleisigen Eisenbahnbrücke entstehen können.
Ziel der Ingenieure von SBP war eine optisch leichte und transparente Brückenkonstruktion trotz der Spannweite von fast 80 Meter und der viergleisigen Eisenbahnlast. Voraussetzung dafür war ein oben liegendes Tragwerk mit Zügeln, die von Masten aus nach unten verlaufen. Anders als bei ähnlich konstruierten Schrägseilbrücken wählte SBP jedoch anstelle von Seilen eine Ausführung aus Stahlblechen und interpretierte somit das Modell einer klassischen Zügelgurtbrücke mit starren Zügeln neu.
Blechpakete aus zwei stehenden, mit umlaufenden Stirnfugen gefügten Blechen formen Zügel und Mastköpfe aller Segel. Nach dem Prinzip der Umkehr eines Bogentragwerks löste SBP die Zügel in Segel auf. Philipp Wenger, Technical Director bei SBP, erläutert den dabei zugrunde liegenden Gedanken: „Beim Bogen werden die Vertikalkräfte aus dem Überbau über die Bogenbeine als Druckkräfte abgetragen. Kehrt man dieses Prinzip um, so werden aus den Bogenbeinen rein durch Zugkräfte beanspruchte Zügel.“ Er ergänzt: „Deshalb wurde für diesen umgekehrten Bogen ein unten leicht trompetenförmig aufgeweiteter und eher dünner Querschnitt gewählt, der nach oben hin schmal zuläuft und dabei zunehmend dicker wird.“
Unterschiedlichen Dicke der Stahlbleche
Durch dieses Zusammenspiel von Fläche und Volumen wurde erreicht, dass die Spannungsausnutzung im gesamten Segel wegen der unterschiedlichen Dicke der Stahlbleche über die gesamte Länge gleich ist. Insgesamt wurden 18 Halbsegel mit identischer Geometrie zu den neun für die Brücke charakteristischen Segeln verschweißt. Die Segel tragen die Kräfte weitgehend membranartig ab und wurden aus über die Segelfläche variierenden Blechdicken gefertigt.
Für jede Zügelkonstruktion der beiden Außenträger wurden jeweils zwei keilförmige Längsprofil-(LP-)Bleche von Dillinger, deren Dicke von 35 bis 90 Millimeter ansteigt, zu Blechpaketen verschweißt. Diese wurden zu 10,5 Meter langen Elementen mit einer Dicke von 70 bis 180 Millimeter längsgefügt. Für die mittleren, deutlich höher beanspruchten Segel wurden bis zu 250 Millimeter dicke Blechpakete aus den höherfesten Stahlgüten S460ML und S460QL benötigt. Da LP-Bleche jedoch nur im normalisierten Lieferzustand (beispielsweise S460NL) geliefert werden können, wurde für diese Zügel auf in Form gefräste Bleche zurückgegriffen.
LP-Bleche vermeiden mechanische Bearbeitung
Für die zum Lastabtrag optisch wie ein Segeltuch gespannten Zügel mit sich nach unten verjüngendem Querschnitt lag für SBP die Verwendung von LP-Blechen nahe. Durch ihre in Längsrichtung im Walzprozess variabel einstellbare Dicke erlauben LP-Bleche eine optimale Anpassung des Blechprofils an statische, konstruktive und fertigungsbedingte Erfordernisse.
Seit 1983 im Produktportfolio von Dillinger und kontinuierlich weiterentwickelt, gibt es heute in ganz Europa Referenzen für ihren Einsatz im Brücken- und Hochbau. Auch für die Konstruktion extrem langer Rotorblätter für Windturbinen bewähren sich ihre Möglichkeiten der spezifischen Profilgebung. Grundsätzlich von Dillinger als Einfach-, Doppel- oder Mehrfachkeil lieferbar erübrigen LP-Bleche die sonst unvermeidliche kosten- und zeitintensive mechanische Bearbeitung oder das Anschweißen von Lamellenpaketen. Das senkt nicht nur den Materialeinsatz, sondern auch das Transport- und Montagegewicht. Durch Einsparung von Schweißnähten reduzieren sie zudem neben Fertigungs- und Prüfzeit auch anfallende Schweißkosten. So tragen sie unterm Strich – trotz der aufwändigen und dadurch teureren Produktion – zu einer Kosteneinsparung von bis zu zehn Prozent bei.
Stahl statt Beton spart Eigengewicht
Bei dem Bau der neuen Neckarbrücke sprach generell ein weiterer Aspekt für den Einsatz von Grobblechen von Dillinger: Der Standort der Brücke liegt im Stuttgarter Heilquellenschutzgebiet. Bad Cannstatt ist nach Budapest der bedeutendste Mineralwasser-Standort in Europa und der Brückenneubau befindet sich in der Kernzone der durch artesisch gespanntes Mineralwasser unter sehr hohem Druck stehenden Gesteinsschichten. Die hier vorherrschenden natürlichen Druckverhältnisse durften durch den Bau nicht verändert werden, um eine Verletzung der Dichtschicht und damit Mineralwasser-Aufbrüche zu verhindern. Entsprechend hohe Restriktionen galt es bei den Bau- und Gründungsarbeiten zu beachten.
Deshalb wurde das Längstragwerk auch – anders als ursprünglich geplant – anstelle von Beton mit Stahl realisiert. Hierdurch konnte das Eigengewicht der Brücke um gut 20 Prozent reduziert werden, sodass deutlich weniger Lasten in den Baugrund abzuleiten waren.
Dillinger lieferte insgesamt 1.600 Tonnen Stahl an den mit dem Bau der Brücke beauftragte Bauunternehmen Max Bögl – vor allem Sonderstähle in großen Blechdicken und -formaten. Dabei entfielen 169 Tonnen auf LP-Bleche für die Zügel aus Baustählen der Güten S355J2+N, S355N und S355NL. Für die Längs- und Querträger, Mastkopfbleche und nicht dickenvariablen Teile der Segel kam vor allem thermomechanisch (TM) gewalzter Stahl zum Einsatz, darunter auch über 30 Tonnen schwere, großformatige Bleche der Güte S460ML. Durch die großen Formate dieser TM-Bleche konnte die Zahl der Schweißnähte deutlich reduziert und durch die höhere Festigkeit zusätzlich Gewicht eingespart werden.
Aus der Sicht von Philipp Wenger hat die Neckarbrücke Vorbildcharakter für den modernen Stahlbrückenbau: „Die Kombination von derart hohen Festigkeiten, Dicken und Formgebungen der Stähle zur Steigerung der Eigenschaften bei gleicher Beanspruchung gab es so noch nicht.“ Nach seiner Einschätzung wurden auch im Ausland noch keine vergleichbare Bleche mit Dicken bis zu 250 Millimetern in dieser Menge und Verarbeitungsart eingesetzt.
Dieser Beitrag ist zuerst auf unserem Partnerportal www.blechnet.com erschienen
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