Handlungsfelder für die Zukunft Es hilft nichts, wenn der Schwarm zu klein ist

Das Gespräch führte Karin Pfeiffer

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Gibt uns die Automatisierung wirklich einen Schlüssel für einige der großen Probleme unserer Zeit an die Hand? Womöglich ja. Warum darin technologisch so viel Potenzial für ökologische und ökonomische Aufgaben steckt, erklärt Rainer Brehm.

Will mit Automatisierung einen Unterschied für die Gesellschaft machen: Rainer Brehm ist CEO von Siemens Factory Automation und Vorsitzender im ZVEI-Fachverband Automation.
Will mit Automatisierung einen Unterschied für die Gesellschaft machen: Rainer Brehm ist CEO von Siemens Factory Automation und Vorsitzender im ZVEI-Fachverband Automation.
(Bild: Siemens)

Mit Automatisierungstechnik Herausforderungen wie Klimathemen und gestörte Lieferketten wuppen: Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?

Nein, mit den technologischen Möglichkeiten in der Automatisierung haben sich tatsächlich drei neue, große Handlungsfelder aufgetan– und zwar mit dem Potenzial, wirtschaftlich, ökologisch und auch gesellschaftlich enorm viel zu bewegen: Nachhaltigkeit, robuste Lieferketten und Fachkräftemangel.

Können Sie die neuen Handlungsfelder skizzieren?

Es geht darum, über die Automatisierungstechnik und Digitalisierung das Thema Nachhaltigkeit voranzutreiben. Sei es im Kontext von Dekarbonisierung, sei es beim Einsparen von Energieressourcen, der Reduktion von Wasser etc. Dann haben wir das Thema Fachkräftemangel – nicht nur bei uns, auch in Japan und China beispielsweise altert die Gesellschaft. Wie lässt sich mit weniger Fachkräften in der Industrie Wertschöpfung generieren? Ein Weg muss da die Automatisierungstechnik sein. Anders wird es nicht gehen.

Automatisierung für eine nachhaltigere Industrie?

Ja, definitiv. Das dritte Handlungsfeld läuft aktuell auch unter dem Stichwort Decoupling. Wie schaffen wir es, unsere Lieferketten unabhängiger zu machen? Unsere Wirtschaftsräume etwas zu entkoppeln, damit ein Chip nicht mehr fünf Mal um die Welt wandert, bevor das finale Produkt da ist? Das ist in verschiedener Hinsicht wichtig: in puncto Nachhaltigkeit, kürzere Logistikwege, sparen Transportkosten ein und dann der Aspekt der Resilienz, weil Logistikketten auch anfällig sind. Wenn ein Teil fehlt, kann man nicht mehr produzieren. Und letztlich dreht es sich hier auch um Vorbeugung, falls aus dem geopolitischen Umfeld noch mal eine Verschärfung droht.

Welche Fähigkeiten der Automatisierung sind das eigentlich, die all das möglich machen könnten?

Das ist eine Frage der immer durchgängigeren Integration von Systemen der Informationstechnologie (IT) und Betriebstechnologie (OT).

Mit der IT/OT-Konvergenz bekommt die Automatisierungstechnik neue Möglichkeiten.

Jetzt bin ich gespannt auf den Bogen von der IT/OT-Konvergenz hin zu Decoupling, Nachhaltigkeit und Fachkräftemangel.

Ein Beispiel: Für sich schnell ändernde Kundenwünsche und kleine Losgrößen braucht die Industrie eine höhere Flexibilität, auch im Hinblick auf das Thema Decoupling. Etwas konkreter: Es gibt Industrien wie etwa im Bereich Consumer Packaged Goods, die arbeiten mit Rohrsystemen, die immer wieder gereinigt werden müssen. Da sind momentan, sagen wir, zehn Tonnen die kleinste Losgröße.

Und wie kommt ein Hersteller von zehn Tonnen Losgröße auf eine, wird also zigfach flexibler?

Eben mit völlig neuen Automatisierungskonzepten. Dabei hilft, was man in der IT DevOps nennt. Damit kann ich in die Automatisierung extrem schnell Änderungen einspielen und umsetzen. Im Falle des Consumer-Packed-Goods-Herstellers heißt das Recipe Management. Die Automatisierungstechnik ermöglicht dabei, komplett neue Rezepturen von der Idee runter auf den Shop­floor zu bringen – und das in kleinen Losgrößen. Mit Hilfe von Robotik ließe sich hier inzwischen auch Pipeless Manufacturing realisieren. Da wird die Flüssigkeit dann nicht mehr über Rohrsysteme transportiert, sondern mit AGVs in Containern, mit denen sich kleinere Losgrößen fahren lassen. Das funktioniert aber nur, wenn ich die Fertigung extrem flexibel automatisiere. Auch in der Automobilfertigung geht es übrigens schon viel mehr Richtung AGV und flexible Zellenkonzepte.

Weil bei Picking-Aufgaben oft kein Ding ist wie das andere, wird die "Automatisierung des Unvorhersehbaren" mit KI interessant.
Weil bei Picking-Aufgaben oft kein Ding ist wie das andere, wird die "Automatisierung des Unvorhersehbaren" mit KI interessant.
(Bild: Siemens)

Gibt’s beim Fachkräftemangel auch einen Twist?

Bis jetzt können wir eigentlich nicht automatisieren, was nicht vorhersehbar ist und keinen hohen Wiederhol-Charakter hat. Aber in Zukunft? Hier kommt künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel, mit der ein Automatisierungssystem zukünftig die Situation selber erkennen und darauf reagieren kann – basierend auf den Fähigkeiten oder Skills des System. Der Automatisierungstechnik wird also ein Skill beigebracht, den sie dann anwenden kann. Das könnte zum Beispiel ein Roboter für flexibles Greifen sein. Für Anwendungen mit extrem viel manueller Arbeit wie das Einpacken verschiedener Dinge in Kartons im Fulfillment Centern eines Online-Handels. Da kann ich nicht für jedes einzelne Produkt die Automatisierungstechnik neu programmieren. KI bedeutet hier „Automatisierung des Unvorhersehbaren“. Hier entwickelt sich ein großes neues Handlungsfeld.

Und wie funktioniert der Push für die Nachhaltigkeit?

Da kann ich die gleichen Technologien anwenden. Zusammen mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beschäftigt uns beispielsweise die Frage, wie wir künftig automatisiert reparieren können. Dafür muss ich mir zwei Gedanken machen: Wie muss ein Produkt gestaltet sein, damit es reparierbar ist? Und welche Daten und welches System benötige ich, um es dann wirklich automatisiert zu reparieren?

Batteriemodul defekt? In Zukunft lassen sich Autobatterien vermutlich automatisiert reparieren.
Batteriemodul defekt? In Zukunft lassen sich Autobatterien vermutlich automatisiert reparieren.
(Bild: Siemens)

Automatisiert reparieren klingt ziemlich abstrakt.

Da gibt’s ein paar Anwendungsfälle, wo man sich das durchaus vorstellen kann, zum Beispiel ein Batteriemodul eines Auto. So unterschiedlich die Batteriemodule und individuell die Fehler auch sein mögen: Mithilfe von KI kann ein Automatisierungssystem den Fehler finden, beheben und das Batteriemodul wieder so zusammenbauen, dass man es am Ende mit Garantie wieder in den Verkehr bringen kann. Alles automatisiert. Und das werden wir auch machen müssen, weil jetzt immer mehr Elektroautos auf den Markt kommen. Kaputte Batterien zu recyceln ist aus unterschiedlichen Gründen eine große Herausforderung. Auf Batterien ist ja auch teilweise eine hohe Spannung, es ist also nicht ungefährlich, Batteriemodule zu demontieren oder zu reparieren. Das zu automatisieren, da wird schon konkret daran gearbeitet bei Siemens.

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Welche einzelnen Technologien sind die großen Treiber?

Bei flexiblen Einsatzmöglichkeiten spielen zum Beispiel die neuen Entwicklungen rund um Edge und Cloud mit hinein. Und mit Technologien wie KI erweitere ich die klassische Logik einer SPS um diese Fähigkeiten. Hinzu kommt die gewinnbringende Nutzung von Daten. Auch das ist neu.

Um im Beispiel zu bleiben: Man wird voraussichtlich keine Batterie reparieren können, ohne mit der Batterie einen digitalen Zwilling mitzuliefern. Ein digitales Typenschild, wo der Lebenszyklus der Batterie, Ladezyklen etc. und vielleicht auch eine Reparatur-Anleitung hinterlegt ist. Alles automatisiert. Repariert ein System die Batterie, nimmt es den digitalen Zwilling als Anleitung her, um zu reparieren.

Flexible Zellkonzepte, Pipeless Manufacturing – welche Technologien stecken in solchen Applikationen?

Edge Computing, Cloud Computing werden extrem wichtig werden. Warum? Weil es eine Entwicklung ist, weg von „never change a running system“ hin zu flexiblen Anpassungen und Upgrades eines Systems. Künstliche Intelligenz brauchen wir wahrscheinlich in allen drei Handlungsfeldern. Um Systemen Skills beizubringen, aber auch für Assistenzsysteme, die die Menschen unterstützen, etwa im Engineering-Prozess. Auf der SPS-Messe 2022 war ein schönes Beispiel für generatives Design zu sehen, wo mittels KI völlig neue Formen herauskamen, die bei den gleichen mechanischen Eigenschaften mit 30 Prozent weniger Material auskommen. 3D-Druck ist auch KI-basiert.

Was auch kommen wird, ist das Themenfeld rund um das Industrial Metaverse, wie wir es bei Siemens nennen. Wie kann ich Daten aus einer virtuellen Welt in der realen Welt nutzen - und umgekehrt? Dazu gehört natürlich der digitale Zwilling. Auch die Blockchain-Technologie ist interessant, um eine End-to-End-Traceability zu erreichen, die auch für Behörden auditierbar ist.

KI und Daten, beides zeigt sich ja ohnehin nützlich für die Prozessoptimierung?

Dafür noch ein konkretes Beispiel: Eine Batteriefertigung produziert heute noch extrem hohe Ausschüsse. Also, wieviel bei Lithium bei einer Lithium-Ionen-Batterie vorne reinkommt und wieviel Batterie hinten rauskommt – das ist noch nicht optimal. Da gibt’s Zahlen, die erschreckend sind.

Ich rate mal: 30 Prozent Ausschuss in der Batteriefertigung?

Das könnte sich durchaus in solchen Größenordnungen bewegen. Material ist bei Batterien ein Hauptthema – und auch die Energie, die in der Herstellung benötigt wird. Nachdem Folien laminiert, gestackt und Elektrolyte eingefüllt sind, gibt’s am Ende der Batteriefertigung noch das Formation und Aging, die Batterie wird „gealtert“. Geladen, entladen, geladen – und dafür acht bis zehn Tage in der Fabrik eingelagert. Stellt man dann am Schluss fest, dass die Qualität nicht stimmt, haben Sie da schon ordentlich Energie, Material und Aufwand reingesteckt.

Wir glauben, dass man über die Nutzung von Daten über alle Prozessschritte hinweg, und das sind viele, den kompletten Prozess optimieren und die Ausschussraten reduzieren kann. Wieder Stichwort Nachhaltigkeit.

Welche Automatisierungskomponenten liefern die Daten?

Das sind alles keine Daten, die man klassisch in der Steuerung benutzt, sondern extrem viele Sensorik-Daten, die über den gesamten Prozess aufgenommen und mit KI verarbeitet werden, um die Ursache zu finden. An was lag es, dass etwas kaputtging? Das wäre aber rückwirkend. Am besten ist es, man erkennt den Fehler früher und kann sofort regulierend in den Prozess eingreifen, um Ressourcen und Energieverbrauch zu reduzieren. Wir arbeiten daran bereits mit Batterieherstellern.

Was leistet Automatisierungstechnik, wenn es um die Transparenz beim Energieverbrauch geht?

Siemens hat Sigreen auf den Markt gebracht: Eine Software, die den Austausch von Product-Carbon-Footprint-Daten ermöglicht. Entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Die Daten werden über eine Blockchain verifiziert. Das bedeutet auch Transparenz über den CO2-Verbrauch entlang der kompletten Lieferkette. Diese Transparenz erlaubt, gezielt zu optimieren. Hier kann die Automatisierungstechnik extrem helfen, weil ich über sie die realen Daten aus den Fertigungseinheiten rausziehen kann und sie bereitgestellt werden.

Eins muss uns klar sein: Zukünftig werden Kaufentscheidungen vom Kunden davon abhängen, wie nachhaltig ein Produkt hergestellt wird. Das sehen wir jetzt schon.

Greeentech: Automatisierungstechnik sorgt dafür, dass Pflanzen mit wenig Ressourcen auskommen und trotzdem gut gedeihen.
Greeentech: Automatisierungstechnik sorgt dafür, dass Pflanzen mit wenig Ressourcen auskommen und trotzdem gut gedeihen.
(Bild: Siemens)

Die Herausforderungen unserer Zeit können einzelne vermutlich nicht lösen. Stichwort Schwarmintelligenz. Vielleicht bilden sich nicht ganz zufällig immer mehr Kooperationen und Plattformen unter den Automatisieren, die ihr Domainwissen zusammentun?

Ob sich die Muster, die wir brauchen, um die Schwierigkeiten zu lösen, in der Automatisierung abbilden? Ja! Zum Beispiel in Standardisierungsthemen wie OPC UA-Schnittstellen und MTP (Module Type Package). Man bekommt Schwarmintelligenz nur hin, wenn die Daten möglichst vielen Leuten zur Verfügung stehen. Und zwar kontextuiert, sodass ein Sensorwert zum Beispiel im Zusammenhang mit der Pumpenleistung steht.

Allerdings: Wie schaffen wir es in der OT-Welt, diese komplexen Technologien möglichst handhabbar zu machen – ohne IT-Programmierkenntnisse? Da sind wir beim Thema Low-Code-Programmierung. Unsere Aufgabe in der Automatisierungstechnik muss sein, diese komplexen Technologien so zu verpacken, dass die Anwendung für viel mehr Leute einfach ist. Es hilft ja nicht, wenn der Schwarm klein ist.

Wann ist es das alles reif für die Praxis?

Das ist gar nicht so weit weg. Technisch ist das alles zu 80 Prozent machbar. Vielleicht in puncto User Experience noch zu optimieren. Aber eins ist für uns auch im ZVEI ist klar: Wir müssen über die Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung die Zukunft gestalten. Ich glaube, wir als Automatisierer machen da wirklich einen Unterschied.

Wenn die Automatisierung so viel beitragen könnte, wo bleibt der politische Rückenwind?

Vielleicht haben wir Automatisierer in der Vergangenheit in Richtung Politik zu wenig gemacht. Aber inzwischen machen wir viel, auch auf EU-Ebene. Und ich glaube, dass das Bewusstsein in der Politik auch wächst.

 (pf)

Rainer Brehm

Rainer Brehm ist seit Januar 2020 CEO der Siemens Business Unit Factory Automation mit Sitz in Nürnberg. Zudem ist er Vorsitzender des Fachverbands Automation im ZVEI e. V. Verband der Elektro- und Digitalindustrie und Mitglied im Vorstand von Arena2036.

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