Digitalisierung Die Zukunft der Konstruktion

Autor / Redakteur: Ralf Steck / Stefanie Michel

Auch das Berufsbild und das Selbstverständnis des Konstrukteurs werden von der digitalen Revolution erfasst – und wer sich nicht bereit macht, auf der Welle zu surfen, wird von ihr verschlungen. Es ist wichtig, sich auf die aktuellen Trends wie Big Data, Künstliche Intelligenz oder Automatisierung in der Konstruktion vorzubereiten.

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Die Digitalisierung bestimmt nicht nur die Produktion sondern auch die Art und Weise, wie der Konstrukteur zukünftig arbeiten wird.
Die Digitalisierung bestimmt nicht nur die Produktion sondern auch die Art und Weise, wie der Konstrukteur zukünftig arbeiten wird.
(Bild: Siemens PLM Software)

Die Trends in der Konstruktion orientieren sich natürlich an den allgemeinen Trends: Verbindung verschiedener Datenquellen, intelligente, vernetzte Produkte, Big Data, Künstliche Intelligenz, Automatisierung und additive Technologien. Geht man die Trends nacheinander durch, gewinnt das Bild der Produktentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung an Schärfe.

Verbindung aller Datenquellen: Der digitale Zwilling entsteht

Früher war die Konstruktionsabteilung die führende Abteilung bei der Entwicklung neuer Produkte. War Elektrik oder Elektronik in das Gerät zu integrieren, geschah dies oft erst, wenn die mechanische Konstruktion abgeschlossen war – oder das Gerät tatsächlich schon gebaut. Das führte unter anderem dazu, dass der Platz für Kabel oft nicht da war und nachträglich Änderungen an der mechanischen Konstruktion notwendig waren. Gleiches galt für Pneumatik und Hydraulik.

Webinar: Die fünf Trends der modernen Produktentwicklung (englisch)

Die Welt hat sich seither völlig verändert: Software und Elektronik sind nicht länger notwendiges Übel, um die Mechanik zu steuern oder zu bewegen, so übernehmen die „nichtmechanischen“ Disziplinen heute immer mehr funktionale Aufgaben. Man vergleiche ein Wählscheibentelefon, das die Ziffern noch per mechanisch erzeugtem Knacken übertrug, mit einem Smartphone, das außer einigen Tasten keinerlei bewegliche Teile besitzt und dessen Funktionalität völlig in die Software übergegangen ist.

Kommentar: Daniel Düsentrieb oder Rita Rührig? Die meisten Ingenieure und Techniker haben schon in ihrer Jugend an allen Dingen herumgebastelt, sich für Technik begeistert und mit großen Eifer Dinge fabriziert. Wer war wohl ihr Idol, der geniale Erfinder Daniel Düsentrieb oder Rita Rührig, die das Chaos der Bürokratie bekämpft?
Systems Engineering bedeutet, sich von der technischen Umsetzung zu lösen und erst einmal Funktionen in einer mathematischen Beschreibung zu definieren. Topologieoptimierung bedeutet, dass der Ingenieur nur noch Zahlen vorgibt und die Software die eigentliche Konstruktionsarbeit macht. Die neuen Werkzeuge sind wirklich faszinierend, aber man muss darauf achten, dass man die Protagonisten der Produktentwicklung mitnimmt. Am Ende des Tages hat der Computer nämlich ein großes Manko: Er hat keinerlei Kreativität und Urteilsvermögen, die besten Ideen werden auch in der Zukunft vom Menschen kommen.
Lassen wir den Konstrukteur weiter seinen Daniel-Düsentrieb-Moment haben und überlassen wir Fräulein Rührig die Optimierung – dann werden die Ergebnisse wirklich optimal und alle Beteiligten haben Freude an ihrer Arbeit.

Diese Veränderung erfordert völlig neue Werkzeuge, die das gemeinsame Arbeiten der verschiedenen Disziplinen an einem gemeinsamen Datenmodell ermöglichen. Der allseits propagierte digitale Zwilling – also die vollständige Abbildung aller Aspekte eines Produkts – ist geradezu das zwangsläufige Ergebnis, wenn sich die Funktion eines Produkts nicht mehr mithilfe der 3D-Geometrie abbilden lässt, sondern in Codezeilen und Schaltungen wandert. Die unterschiedlichen Disziplinen – die in unterschiedlichen, an die jeweiligen Anforderungen angepassten Autorensystemen ihre Daten erzeugen – müssen diese Daten zu jeder Zeit den jeweils anderen Disziplinen zur Verfügung stellen können.

Natürlich ist es erforderlich, auch auf die Daten der Kollegen zurückgreifen zu können. Nicht nur, dass die Elektronik durchaus eine dreidimensionale Form innehat und deshalb in die 3D-Geometrie des Produkts eingepasst werden muss. Auch der Softwareentwickler wird irgendwann wissen müssen, wo beispielsweise ein Sensor, dessen Signal in seinem Code relevant ist, physisch angeordnet ist. Ein gemeinsames Datenmodell, das alle Produktdaten an jedem Ort zur Verfügung stellt – und zwar in der richtigen Form –, ist die Voraussetzung für ein effizientes Arbeiten an solch eng integrierten Produkten. Zudem muss dieses Datenmodell jederzeit konsistent sein, die Daten müssen also in Echtzeit fließen können, manuelle Datenübertragung oder -anpassung ist schlicht nicht möglich. Nur so wird ein Produkt aus einem Guss entstehen.

Hohe Produktvarianz durch länderspezifische Regeln

Nicht nur die funktionale Vielfalt unserer Produkte steigt, sondern auch die Vielzahl an regulatorischen Anforderungen, die zu erfüllen sind – vor allem auf globalisierten Märkten. Die Regularien unterscheiden sich zwischen Ländern und Wirtschaftsräumen teils erheblich, der Hersteller eines Produkts muss alle Regularien aller Länder berücksichtigen und möglichst gemeinsame Nenner finden, um sein Produkt in möglichst vielen Märkten ohne landesspezifische Anpassungen vertreiben zu können. Lassen sich die weltweit üblichen Netzspannungen mit 110 und 220 V noch relativ gut abfangen, gelten beispielsweise für Autos an vielen Märkten unterschiedliche Regularien in Hinsicht auf das Sichtfeld, das der Fahrer überblicken können muss – einschließlich der Rückspiegelgröße.

Solch komplexe Anforderungen lassen sich nur noch mit Softwaresystemen im Griff halten, die ständig und parallel zum Konstruktionsprozess die Einhaltung dieser Anforderungen testen und überwachen.

Konstruktion automatisch mit den Anforderungen abgleichen

Weil diese Anforderungen zu einem wichtigen Teil auch die Funktionen betreffen, ergibt sich aus einer kompletten Anforderungsliste, die automatisch überwacht werden soll, quasi zwangsläufig eine Funktionsbeschreibung im Sinne des Systems Engineering. Alle Funktionen müssen so definiert und verknüpft werden, dass sich die Konstruktion automatisch mit diesen Anforderungen abgleichen lässt – das geht nur mithilfe einer abstrakten Funktionsbeschreibung, die sich von Geometrie, Schaltplan oder Code löst.

Das Ergebnis ist ein Softwarewerkzeug in Form einer Plattform, auf der die Daten frei fließen können, und in dem Systems Engineering und Requirements Management eine zentrale Rolle spielen. Daraus ergeben sich aber auch am anderen Ende des Prozesses Vorteile: Wenn Daten überall zur Verfügung stehen, sind sie auch nach der Fertigung des Produkts für den Service und andere Bereiche des Produktlebenszyklus nutzbar.

Dies bedeutet natürlich, dass die Daten des digitalen und des realen Zwillings jederzeit übereinstimmen müssen. Heute ist in vielen Fällen nicht einmal sichergestellt, dass das Produkt am Ende der Fertigung völlig identisch mit dem digitalen Modell ist – beispielsweise, wenn Freiformflächen-Modelle von einem Modellbauer „freihändig“ aus den CAD-Daten erstellt werden, wie es allzu oft der Fall ist, oder auch wenn in der Fertigung Änderungen notwendig sind, die aber nicht mehr ins digitale Modell zurückgeschrieben werden.

Ein Rückkanal ist notwendig – aus der Fertigung, aber auch aus dem „echten Leben“, in dem Maschinen im Lauf der Jahre immer wieder gewartet, umgebaut, modernisiert und optimiert werden, ohne dass dies wirklich dokumentiert wird. Techniken wie Tablets, mit denen sich 3D-Modelle zum Aufstellort der Maschine mitnehmen lassen, oder eine Augmented-Reality-Brille, die den direkten, dreidimensionalen Vergleich von digitalem Modell und realer Maschine ermöglicht, werden solche Rückmeldungen in Zukunft wesentlich einfacher machen.

Intelligente Produkte, die nach Hause telefonieren

Das Internet der Dinge (Internet of Things – IoT) verlängert die Laufzeit dieses Rückkanals bis in die Nutzungsphase des Produkts. Wie ET aus dem unvergessenen Spielberg-Film sind Produkte heute in der Lage, nach Hause zu telefonieren. Sensoren sammeln Zustandsdaten, die dann laufend an den Hersteller, Betreiber oder Besitzer zurückgespielt werden. Das ermöglicht es den Konstrukteuren, ein Verständnis für die realen Rahmenbedingungen und Lastfälle zu gewinnen, unter denen ihre Maschine arbeitet.

Mithilfe der Sensoren in einer Maschine kann beispielsweise erkannt werden, dass ein bestimmtes Schwingungsmuster immer einige Zeit vor einem Lagerschaden auftritt. Diese Erkenntnis lässt sich dann gezielt nutzen, um beim Wiederauftreten dieses Musters ein Serviceteam mit einem neuen Lager und dem benötigten Werkzeug loszuschicken, um das Lager zu wechseln, bevor der Schaden auftritt – das ist Predictive Maintenance.

In Bezug auf die Konstruktion bedeutet das die Erkenntnis, dass dieses Lager vielleicht zu klein dimensioniert ist und in der nächsten Maschinengeneration verstärkt werden sollte. Oder es lassen sich bestimmte Belastungsmuster erkennen, die man durch eine Umgestaltung vermeiden kann, was es dann wiederum ermöglicht, das Produkt filigraner und leichter zu gestalten.

Heute werden Produkte meist auf Basis geschätzter oder näherungsweise erfasster Daten berechnet – der berühmte Daumenwert plus Sicherheit. Der Konstrukteur weiß oft relativ wenig, wie sein Produkt – nachdem es die Fertigungshalle verlassen hat – tatsächlich genutzt wird und welchen Belastungen es ausgesetzt ist. Es ist ja nicht einmal sicher, dass das Produkt genau so benutzt wird, wie es der Konstrukteur vorgesehen hat.

IoT ist die logische Erweiterung intelligenter Produkte. Wenn Produkte Sensoren besitzen und deren Werte interpretieren können, ist es ein kleiner Schritt, diese Daten zu sammeln und zurückzuspielen. Auf Basis dieser Daten lassen sich nun neue, ähnliche Produkte oder Nachfolgemodelle konstruieren – auf Basis von Realdaten statt auf Annahmen. Auch Optimierungen bestehender Anlagen können auf Basis aktueller Daten vorgenommen werden.

Noch interessanter ist es, die IoT-Daten in eine Simulation des neuen Produkts einzuspeisen. So lassen sich Produkte noch in der virtuellen Phase der Konstruktion unter realen Bedingungen testen und optimieren, lange bevor das erste Gewinde geschnitten ist.

Big Data: Antworten auf Fragen, die bisher nicht gestellt wurden

Im Jahr 2015 wurden einer Studie von Seagate und IDC zufolge 30 % der Daten im Internet von Unternehmen erzeugt, bis ins Jahr 2025 soll der Anteil auf 60 % steigen. Haupttreiber der Steigerung sind IoT-Daten. Ein zweiter wichtiger Wert: 2025 werden 100-mal mehr Daten von Künstlicher Intelligenz analysiert, das ist die unvorstellbare Menge von 1,4 Zettabyte beziehungsweise 1,4 Mrd. Terabyte. Das ist wahrlich Big Data.

Was ist an der Auswertung der IoT-Daten so interessant? Solche riesigen Datenmengen sind von Menschenhand nicht mehr analysierbar, deshalb nutzt man an diesem Punkt Künstliche Intelligenz. Das Besondere dabei: Man stellt der Software keine spezifische Frage, sondern lässt sie im Datenozean nach Mustern und Auffälligkeiten suchen, die dann wiederum Rückschlüsse zulassen. Im Gegensatz zum vorigen Trend der vernetzten Geräte geht es hier nicht um direkte Wirkbeziehungen und Realdaten, sondern um statistische Auswertungen großer Datenbestände, um neue, bisher nicht verstandene oder bemerkte Zusammenhänge zu erkennen.

Big Data könnte beispielsweise herausfinden, dass das im Zusammenhang mit IoT angesprochene Schwingungsmuster nur im Sommer oder bei Maschinen in südlichen Ländern auftritt. Der Konstrukteur erkennt dann, dass die eigentliche Ursache die Temperatur des Schmierstoffs ist, der in der Hitze dünnflüssiger ist. So verrät Big Data dem Konstrukteur, dass eine Ölkühlung oder einfach dickflüssigeres Öl den Lagerschaden ebenso gut verhindern können wie ein kräftiger dimensioniertes Lager.

Konstruktionsaufgaben automatisieren – der Computer wird zum echten Helfer

Ein CEO der CAD-Branche sagte vor einiger Zeit, dass der Terminus „CAD“, Computer Aided Design, ja eigentlich bisher falsch gewesen sei, weil der Umstieg auf CAD zwar das Zeichnen vereinfacht habe, aber bei der konstruktiven Arbeit keine Hilfe sei. Er hatte auch gleich eine Lösung: Generative Design beziehungsweise Topologieoptimierung.

Bisher entwickelt der Konstrukteur – auf der sprichwörtlichen Serviette oder im Kopf – eine Lösung für ein technisches Problem und setzt dies dann mithilfe von CAD in Bauteile und Baugruppen um. Wie wäre es, den Computer selbst die Lösung suchen zu lassen? Genau dies versuchen Optimierungssysteme. Ein solches System ist beispielsweise in der Lage, die optimale Länge eines Hebelwerks zu berechnen, wenn der Bediener die benötigten Parameter – die zu bewegende Last, Daten des Motors und gewünschter Weg – eingibt.

Generatives Design: Die optimale Form gibt die Natur vor

Um Material möglichst optimal auszunutzen, dient die Natur als Vorbild. Generative-Design-Systeme lassen Bauteile sozusagen zwischen den vordefinierten Lasteintragspunkten wachsen oder schneiden so lange unbelastete Materialzonen weg, bis eine optimale Form übrigbleibt. Diese erinnert nicht von ungefähr an biologische Strukturen – die Natur ist schon seit Jahrmillionen mit der Optimierung des Materialeinsatzes beschäftigt. Mit solchen simulationsgestützten Techniken lassen sich gewaltige Einsparungen beziehungsweise Verbesserungen erreichen, langwierige manuelle Optimierungen werden vermieden.

Dabei geht es oft nicht um Materialeinsparung oder die Gewichtsreduzierung an sich. Leichtere Teile haben eine geringere Massenträgheit und erlauben höhere Beschleunigungen, was beispielsweise in einer Maschine höhere Taktzahlen ermöglichen kann. Leichtere Robotergreifer machen kleinere und ebenfalls leichtere Roboterarme möglich. Dadurch können kleinere Motoren eingebaut werden. Belastungen sinken, die Lebensdauer steigt – jede Optimierung hat, sinnvoll genutzt, weitere positive Effekte.

Computer werden immer intelligenter und leistungsfähiger, doch der Mensch wird nicht überflüssig. Robert Yancey, Director Manufacturing and Production Industry Strategy and Business Development bei Autodesk: „Der Computer kann bestimmte Dinge sehr gut und sehr effizient. Doch es gibt auch Dinge, die nur ein Mensch kann: Kreativität, Intuition oder auch nichtquantitative und qualitative Entscheidungen treffen.“ Die Intelligenz des Rechners kann der Konstrukteur nutzen, um bessere Produkte zu entwickeln – sei es auf Basis besserer Daten, sei es durch Optimierung. Die neuen Instrumente ermöglichen nicht nur graduelle Verbesserungen, sondern große Sprünge in der Effizienz der Produkte, aber auch der Produktentwicklung. Wer diese Potenziale achtlos vergibt, kann sich sehr schnell auf der Verliererstraße sehen.

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