Zukunftsutopie Die Additive Fertigung und das Ende aller Erfindungen

Autor Simone Käfer

Sie wurde erfunden. „The invention to end all inventions”, wie der Physiker und Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke den 3D-Drucker 1964 beschrieb, rund zwanzig Jahre vor dessen Erfindung. Wenn Additive Fertigung das Ende aller Erfindungen ist, wie weitreichend wird dann noch ihre Entwicklung sein?

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(Bild: MM Maschinenmarkt)
  • Die Utopie: So könnte eine Zukunft ohne Entwicklungen aussehen
  • Die Idee: Der Hintergrund zum Beitrag
  • Die Expertenmeinungen: Sehr praktisch, so ein Print-to-go-Shop – aber der Ingenieur bleibt!

Der Nachmittag des 24. Dezember. Weihnachten. Frau und Kinder erwarten in wenigen Stunden liebevoll ausgesuchte Weihnachts-
geschenke unterm frisch ausgedruckten Weihnachtsbaum. Ob er dieses Jahr wieder neon-pink mit grellgrünen, phosphoreszierenden Kugeln sein wird? Hoffentlich nicht! Aber zurück zum Problem „Weihnachtsgeschenke“. Schnell in einen Laden und irgendetwas kaufen geht schon lange nicht mehr. Erstens gibt es kaum noch Einkaufsgeschäfte und zweitens erwarten die Lieben ganz besondere Geschenke. Geschenke, die das jeweilige Bedürfnis befriedigen und die Besonderheit der Person unter­streichen. Individuelle Geschenke, auf den Einzelnen zugeschnitten. Leichte Panik bricht aus, es ist schon spät und aus dem autonom fahrenden Einsitzer heraus sieht er die Schlangen vor den Print-to-go-Shops.

Der 3D-Drucker im Handschuhfach

Immerhin arbeitet im Handschuhfach bereits der Mini-­3D-Drucker an einer zartrosé schimmernden Perle im extravaganten Knotendesign für seine Frau. Den Drucker und das Perlmutt-Filament hat er immer in seinem Fahrzeug, die Designdaten hatte er bereits heute Vormittag von einer KI erstellen lassen. Sie weiß genau, welcher der schnelllebigen Trends zum Stil seiner Frau passt und wie die Perle am besten aufgebaut werden sollte, um so wenig des teuren, sich selbst auflösenden Stütz­materials wie möglich zu verschwenden. Dass die KIs noch keinen Weg gefunden haben, ohne Stützmaterial auszukommen, ist ihm ein Rätsel. Angeblich arbeiten sie schon seit 20 Jahren daran, also seit die KIs in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen die Menschen abgelöst haben. Damals gab es noch viel Widerstand, aber selbst die größten Protestler mussten sich irgendwann eingestehen, dass es schon seit einiger Zeit keine neuen Entwicklungen mehr gegeben hatte. Sein Vater erzählt manchmal noch von der Zeit der Innovationen. Vor so vielen Jahren, als noch nicht alles von den KIs organisiert wurde und als 3D-Drucken noch etwas Besonderes war. Das müssen schwere Zeiten gewesen sein. Allein schon, weil man Defektes nicht einfach mit dem Scanner erfassen und dann mit dem Drucker wiederherstellen konnte. Immer etwas neues kaufen, nur weil es kaputt ging? Undenkbar! Angeblich hätte es damals auch noch keinen 4D-Druck gegeben. Was war wohl mit all den heruntergefallenen Dingen geschehen, die sich nicht selbst wieder in ihre Form brachten?

Die KI hat immer Recht

„Halt, stopp!“, ruft er irritiert. Warum fährt das Fahrzeug so weit, wo ist er denn? Er will doch das Geschenk für seine Tochter abholen. Aber das Auto hält nicht an. „Wo fährst Du hin?“, fragt er die KI im Fahrzeug. „Zum Ziel“, antwortet sie mit der Stimme seiner Frau. Die benutzt das Fahrzeug immer, wenn es ihm keine Auskunft geben will. Die KI weiß, wo seine Frau den neuen Hund für ihre Tochter vorbestellt hat. er muss ihn nur noch abholen. Der Vorgänger war schon drei Jahre alt, ein Auslaufmodell in veraltetem Design. Damals war die Technik für das 3D-Drucken von Lungenflügeln doch noch nicht so weit, wie man dachte, und reparieren lassen wollten sie ihn nicht. Hätten sie auf die KI gehört, wäre es nie so weit gekommen. Sie hatte ihnen gesagt, dass die alten Drucke eine geringe Haltbarkteitserwartung haben und sie nicht genug Geld für ein Haustier aus einer aktuellen Serie. Aber sie wollten nicht hören, wollten ihren eigenen Willen durchsetzen, selbst etwas entscheiden. Es war auch ihr erstes Tier und sie hatten den Fehler gemacht, nicht die geruchsneutralen Materialien für das Fell zu wählen. Furchtbar, wie das Ding stank! Seine Frau hatte dieses Mal – in Absprache mit der KI – das Fellfilament mit Erdbeerduft gewählt. „Das mag deine Tochter“, meinte sie. Nur, ob Erdbeergeruch an einem Haustier besser ist?

Seinem Sohn ist das sicherlich egal. Er hatte sich erst den Geruchssinn kappen lassen. Warum hat er ihnen nicht verraten, sie können es nur vermuten. Angeblich trieb er sich in den Slums herum, dort wo die noch nicht optimierten Menschen leben – und die stinken. Warum sie sich nie bionisch erweitern ließen, blieb ihm ein Rätsel. Seit Jahrzehnten gab schon keine Vorfälle mehr hinsichtlich Inkompatibilität mit den gedruckten Organen, selbst über die billigen oder gar caritativen Ersatzorgane hörte man nie etwas Negatives – und schon gar nicht über die androiden Bauteile. Die alten Ingenieure hatten damals mit den Exo­skeletten eine wirklich hilfreiche Erfindung entwickelt. Aber erst die Kombination mit den menschlichen Zellstrukturen aus den Druckern – und den richtigen Werkstoffen selbstverständlich – hatte den Durchbruch gebracht. Nur gut, dass die KIs die passende Zusammenstellung errechnet hatten.

Mit gestreckter Tinte wächst niemand

Sie hätten gerne noch mehr Kinder, aber Werkstoffe für neue Menschen wurden rationalisiert und sind fast nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Besonders Knochentinte ist ein begehrtes Material. Deswegen wird sie auf dem Schwarzmarkt auch oft gestreckt. Hat man Pech, zahlt man Unsummen für eine Flüssigkeit, die keine Kapillarstrukturen bildet und somit nur schwer vom Körper aufgenommen wird. Es soll auch vorgekommen sein, dass die Knochen nicht gewachsen sind oder die bionischen Bauteile abgestoßen wurden. Nein, der Schwarzmarkt kommt nicht infrage. Aber auch bei legalen 3D-gedruckten Organen ist die Qualität unterschiedlich. Auf ihre Tochter hatten sie schon sehr lange sparen müssen. Mit seinem kleinen Ingenieursgehalt war das kaum zu bewältigen. Wenn sein Vater von den alten Zeiten erzählt, kommt es ihm vor, als spräche dieser im Fieberwahn: Zeiten, als Ingenieure Dinge erfanden, Materialien erforschten, den Maschinen sagten, was sie wie fertigen sollten. Er saß nur in diesem abgeschlossenen Raum, mit der Virtual-Reality-­Wand und beobachtete. Er beobachtete die Maschinen, wie sie die Welt produzierten. Etwas zu tun hatte er nur, falls ein unerwartetes Problem auftrat. Das letzte Mal geschah das vor 14 Monaten und zwei Tagen, da war plötzlich die Wand schwarz. Keine virtuelle Version der Produktion mehr vor seinen Augen, kein Licht, nichts. Der Strom war weg. In der tiefschwarzen Finsternis hatte es ewig gedauert, bis er die Tür fand. Aber die blieb natürlich zu, er konnte ja keinen Netzhaut-Scan durchführen. Also setzte er sich wieder hin und wartete.

Das Ersatzteillager im Auto

Warum hält sein Fahrzeug denn jetzt plötzlich an? „Drucke Ersatzteil“ erscheint in roten Buchstaben auf dem Fenster vor ihm und der integrierte 3D-Drucker hinter ihm beginnt seine Arbeit. „Mist, jetzt sitze ich eine halbe Stunde hier fest!“, ärgert er sich. So in die Gegenwart zurück gerissen, öffnet er zögerlich die Tür, um sich die Beine zu vertreten, bis das Auto sich repariert hat. In dieser Gegend war er noch nie, sie ist etwas herunter­gekommen, die Häuser sind altmodisch, die Print-to-go-Shops wirken verlassen. Vielleicht dauert die Reparatur auch länger, wer weiß, ob hier überhaupt ein mobiler Reparaturassistent unterwegs ist. Die kleinen autonomen Kisten sind mit allen nötigen Werkzeugen ausgestattet und werden von den beschädigten Fahrzeugen angefordert und bezahlt. Die wenigen Menschen, die er auf der Straße sieht, sehen so anders aus. Allein all die unterschiedlichen Körper! Auch wenn die meisten davon nicht dem gängigen Optimierungsbild entsprechen, faszinieren sie ihn ungemein. Während er noch darüber nachgrübelt, wie es wohl sein mochte, einen nicht durch Hightech optimierten Körper zu besitzen, rempelt ihn einer dieser Menschen an und biegt zielstrebig um die nächste Ecke. Unverschämtheit, nicht mal entschuldigt hat er sich! Verärgert will er ihm nach, doch die Farbveränderung seines Fahrzeugs von orange zu blau erregt seine Aufmerksamkeit. Endlich, das ist Auto fertig. Gerade fährt der autonome Reparatur­assistent noch seinen Roboterarm ein, aber die Tür seines Fahrzeugs hat sich schon für ihn geöffnet.

Ein Material, das sich selbst verformt

Jetzt geht es hoffentlich zum Pet-Print-Shop, um den Hund abzuholen. Dann bleibt nur noch das Geschenk für seinen Sohn. Dass die KI ihm und seiner Frau keine Vorschläge dafür gemacht hatte, ist ungewöhnlich. Sonst weiß sie doch immer, was zu tun ist, und welche Geschenke die passenden sind. Inzwischen sind sie am Geschäft für 3D-gedruckte Haustiere angekommen und das Auto öffnet die Tür. Beim Aussteigen grübelt er immer noch über das Weihnachtsgeschenk nach und hätte fast nicht bemerkt, wie ihm etwas aus der Tasche fällt. Er bückt sich und hebt den schwarzen Klumpen auf. Während er noch darüber nachgrübelt, was es wohl sein könnte und wie es in seine Tasche kam, erinnert ihn die KI da­ran, den Hund abzuholen. Ach ja, der Hund. Plötzlich bewegt sich das Teil in seiner Hand und formt sich zu einem Hund. Erschrocken lässt er es fallen. Dabei verliert es seine Form und wird wieder zu einem Klumpen. Misstrauisch hebt er es wieder auf, denkt an sein Auto, merkt, wie Bewegung in den Klumpen kommt, und hält eine Miniatur seines Autos in der Hand. Hund!, denkt er und aus dem Auto wird ein Hund. Er aktiviert den Kommunikator und schickt seiner Frau die Nachricht: „Ich habe das passende Geschenk für unseren Sohn gefunden.“

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